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Mythos Modernität? Die Schulreformen der Aufklärung als Teil historischer Meistererzählungen

Benedikt Stimmer

15.3.2024

Der Beginn einer ’nationalen‘ Bildungstradition?

Am 14. Oktober 2023 nahm der polnische Präsident Andrzej Duda das 250-jährige Gründungsjubiläum der Komisja Edukacji Narodowej (dt.: Kommission für nationale Erziehung) zum Anlass für eine offizielle, an seine „Landsleute“ gerichtete Erklärung. Darin würdigte er die Einrichtung dieser ersten ‚staatlichen‘ Schulverwaltungsbehörde als polnische Pionierleistung – tatsächlich gilt die 1773 mit dem Kapital des aufgelösten Jesuitenordens ausgestattete Kommission als erstes Proto-Bildungsministerium Europas – und lobte „Mut und Patriotismus“ der visionären Reformer. Ihnen verdanke man die Verbreitung eines modernen staatsbürgerlichen Ethos, die Bildung neuer (säkularer) Eliten sowie den organisatorischen und inhaltlichen Rahmen, der die polnische Jugend auf die Herausforderungen der Moderne und einen „zivilisatorischen Wettbewerb“ mit den „feindseligen Nachbarmächten“ vorbereitet habe.

Neben der Einführung neuer Unterrichtsgegenstände maß der Präsident in seiner Stellungnahme insbesondere der Etablierung des Polnischen als Unterrichtssprache statt des Lateinischen eine Bedeutung von historischer Tragweite zu:

Ebenso wie die Gründung der Gesellschaft für Elementarbücher, die Lehrbücher erarbeitete und herausgab, trug diese Änderung entscheidend zur Entwicklung des modernen Polnisch bei. Vor allem bindet sie jedoch Generationen von Polen fester an das Erbe ihrer heimatlichen Kultur und Schrift. Von der fundamentalen Bedeutung dieser Entscheidung zeugen die spätere Geschichte des Widerstands gegen Germanisierung und Russifizierung in der Zeit der Teilungen sowie der Kampf um die Wiedergewinnung einer unabhängigen Republik.“ [1]

Duda ruft hier ein zuweilen ins Nationalmythologische ausgreifendes Geschichtsbild auf, das die aufklärerischen Reformen teleologisch überhöht und am Beginn eines ‚von oben‘ vorangetriebenen Prozesses der Nationalstaatsbildung verortet – eine bis heute weit verbreitete Lesart der schulpolitischen Bestrebungen des späten 18. Jahrhunderts.

Abb. 1: Jährlich wird in Polen am 14. Oktober der Tag der nationalen Bildung (Dzień Edukacji Narodowej) begangen, der für Lehrer:innen und Pädagog:innen ein Feiertag ist. Geprägt wird er von Veranstaltungen an den verschiedenen Bildungseinrichtungen sowie der Verleihung von Verdienstkreuzen und Auszeichnungen durch den Bildungsminister. (Quelle: Sejm Rzeczypospolitej Polskiej)

Das polnische Beispiel mag ein besonders plakatives sein, begünstigte der bis zum Ersten Weltkrieg obwaltende Verlust der Eigenstaatlichkeit doch eine Tradition der Verklärung und erleichterte die Stilisierung der Komisja Edukacji Narodowej zur Instanz eines selbstbestimmten geistig-kulturellen Aufschwungs. Doch steht Dudas Einordnung, wonach das Bildungswesen mit den normativen Vorgaben des späten 18. Jahrhunderts in eine neue Phase seiner Geschichte eingetreten sei und fortan „dem Gemeinwohl der modernen Nation und ihres Staates untergeordnet sein sollte“, insgesamt prototypisch für ein im Gros der europäischen Staatenwelt prominentes Narrativ. Jedes Kind lernt schließlich, dass in Frankreich Napoleon (1769–1821), in Portugal der Marquês de Pombal (1699–1782) die moderne Schule schufen, Friedrich der Große (1712–1786) als erster alle Kinder die Schulbank drücken ließ und noch das heutige österreichische Schulsystem auf Maria Theresias (1717–1780) Schultern ruht.

Neue Schulen für das Volk: Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht

Vom „Schulsystem wie zu Maria Theresias Zeiten“ ist in Debatten häufig die Rede, wenn über den bildungspolitischen Stillstand in Österreich geklagt wird, als hätte sich in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten im Kern nichts verändert. Damit wird zugleich stets eine populäre Meistererzählung bemüht: Die moderne (Volks-)Schule existiert seit Maria Theresia, die das Bildungswesen mit dessen Verstaatlichung und der Einführung der allgemeinen Schulpflicht gleichsam in die Moderne katapultierte. Tatsächlich kam es mit der Überführung des Schulwesens vom ecclesiasticum zum politicum unter der Ägide der Kaiserin zur Reorganisation von Universitäten, Sekundar- und Elementarschulen. Diente die Reform des höheren Schulwesens dabei in erster Linie der Beamtenausbildung, so waren mit Blick auf die ‚niederen Schulen‘ vor allem wohlfahrtstheoretische Überlegungen leitend: Eine bessere Untertanenbildung sollte zu ökonomischer Prosperität und zu höheren Staatseinkünften führen – nicht zuletzt aber auch, und dies war ein zentrales Anliegen der Kaiserin, den Geheimprotestantismus zurückdrängen.

Abb. 2: Mit der „Allgemeinen Schulordnung für die deutschen Normal- Haupt- und Trivialschulen“ wurde in den „deutschen Erblanden“ der Habsburgermonarchie 1774 die allgemeine Unterrichtspflicht, wohlgemerkt keine Schulpflicht, eingeführt. Drei Jahre später folgten vergleichbare Vorgaben für das Königreich Ungarn. (Quelle: Google Books)

Dass diese schulpolitischen Maßnahmen, die überall dort verhältnismäßig erfolgreich waren, wo mit dem eingezogenen Jesuitenvermögen ein nennenswerter Kapitalstock bereitstand, bis heute als großer Bruch mit Vorangegangenem rezipiert werden, ist dabei auch zeitgenössischen Selbstinszenierungsstrategien geschuldet. Indem Männer wie Louis-René de Caradeuc de La Chalotais (1701–1785), seines Zeichens eine Art role model für aufgeklärte Erziehungsreformer, eine anti-jesuitische ‚schwarze Legende‘ perpetuierten, setzten sie sich zugleich selbst als zukunftsgewandte Visionäre in Szene. Auf die kirchliche Infrastruktur konnte man dabei jedoch zu keinem Zeitpunkt verzichten, und gerade die herausgehobene Präsenz kirchlicher Amtsträger im Zentrum der Reforminitiativen zeigt, dass die Verstaatlichung des Schulwesens zunächst kein Säkularisierungsvorgang war. Besonders deutlich wird das am Beispiel des 1787 gegründeten Berliner Oberschulkollegiums, der ersten ‚gesamtstaatlichen‘ Schulverwaltungsbehörde Preußens: Ihr Personal, praktisch ausschließlich Theologen, war nahezu deckungsgleich mit jenem des Berliner Oberkonsistoriums, der Zuständigkeitsbereich wiederum konfessionell auf das lutherische Schulwesen beschränkt.

Normsetzung und Wirklichkeit: Große Pläne, großes Scheitern?

Gemessen an ihren eigenen Zielsetzungen ist die Geschichte der bildungspolitischen Initiativen des späten 18. Jahrhunderts durchaus die eines Scheiterns. So nahmen etwa weder in Polen, noch in Frankreich die Reformen nennenswerten Einfluss auf Schulbesuchs- und Alphabetisierungsraten der breiten Bevölkerung. Zwar gab es durchaus eine nachhaltige ‚Revolution des Wissens‘, da Wissen nun universell und nicht mehr ständespezifisch gedacht wurde, aber mit Blick auf damalige Schulrealitäten kann vielerorts kaum von einer Zäsur die Rede sein. Während einzelne Musterbildungsanstalten entstanden und die frühneuzeitliche Lateinschule durch die Differenzierung des Fächerkanons, die Professionalisierung der Lehrerschaft und die Einführung von Zugangsbeschränkungen allmählich zum bürgerlichen Gymnasium wurde, veränderte sich in den Elementarschulen insbesondere auf dem Land wenig. Bis weit ins 19. Jahrhundert war kein Staat als Erziehungsträger in der Lage, ein flächendeckendes Schulnetz zu beaufsichtigen und zu finanzieren: Das Fehlen von Schulgebäuden, Unterrichtsmaterialien und qualifizierten Lehrern blieb noch lange eher Regelfall denn Ausnahmeerscheinung.

Abb. 3: Daniel N. Chodowiecki, „Eine Schulmeisterstube“, 1791. Ein Lehrer erläutert unwissenden Kindern den Sündenfall als Beginn der menschheitlichen Unheilsgeschichte. Im Hintergrund bekämpft der Erzengel Michael den Teufel in Drachengestalt und stößt ihn hinab auf die Erde. (Quelle: Herzog Anton Ulrich-MuseumCC BY-NC-ND 4.0)

Die Geschichte der ambitionierten Schulreformprojekte des ausgehenden Ancien Régime ist damit letztlich auch die eines historiographischen Konstruktionsprozesses. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden sie von der im Entstehen begriffenen Geschichtswissenschaft in nationale Fortschrittserzählungen eingepasst, ihre Initiator:innen – mögen sie nun Maria Theresia, Katharina II. oder Napoleon heißen – mit Blick auf gesellschaftliche Errungenschaften heroisiert. Normative Neuerungen wurden und werden dabei nicht bloß überhöht, sondern auch rückwirkend nationalisiert: Reichlich anachronistisch können mithin die klerikalen polnischen Schulreformer aus einer Zeit, in der die natio lediglich den Adelsstand meinte, noch heute als Vorkämpfer der modernen polnischen (Kultur-)Nation ins Feld geführt werden. Sie sind damit letztlich Teil einer Art Gründungsmythos der Moderne – eine Darstellung, die mit Sicherheit der Historisierung bedarf, dem publizistischen Geltungsdrang vieler Aufklärer aber wohl durchaus gefallen hätte.

Lesetipps:

Nils Lindenhayn, Die Prüfung. Zur Geschichte einer pädagogischen Technologie (Wien / Köln / Weimar 2018).

Wolfgang Schmale, Nan L. Dodde (Hg.), Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung (1750–1825). Ein Handbuch zur europäischen Schulgeschichte (Bochum 1991).

Jil Winandy, National and Religious Ideologies in the Construction of Educational Historiography. The Case of Felbiger and the Normal Method in Nineteenth Century Teacher Education (New York / London 2022).

Autor:

Foto von Benedikt Stimmer

Benedikt Stimmer ist Fellow der Doctoral School of Historical and Cultural Studies und Universitätsassistent am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er beschäftigt sich mit der Bedeutung der Sprachenfrage im Kontext aufklärerischer Bildungspraktiken in den habsburgischen und den preußischen Teilungsgebieten Polen-Litauens im ausgehenden 18. Jahrhundert.


[1] Die polnische Originalversion der Rede ist zu finden unter https://www.prezydent.pl/aktualnosci/wypowiedzi-prezydenta-rp/listy/przeslanie-z-okazji-250-rocznicy-powolania-komisji-edukacji-narodowej,74696 (letzter Zugriff: 22.02.2024).