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Aus dem Reich der Weltmodelle – der Hunt-Lenox Globe und seine ‚Kinder‘

Martina Pippal

15.2.2024

Ein Sammler, der gerne ‚verkannten‘ Werken nachjagt, findet 2012 auf der Karten- und Globenmesse in London ein ansprechendes Objekt: einen Globus von weißlicher Farbe, ca. 11 cm im Durchmesser. Die Weltkarte auf dem Globus verweist auf deren Entstehung um 1510. Der Verkäufer spricht – wie der Kollege, von dem er das kleine Erdmodell eben übernommen hat – von einer Kuriosität respektive einem Dekorationsgegenstand aus Straußeneischalen. Der Sammler sieht in dem Objekt weit mehr als etwas Kurioses oder Dekoratives, nämlich ein Werk von größter kulturhistorischer Bedeutung. Er kauft den kleinen Globus und entwickelt eine Reihe von Thesen. Sie kulminieren in der Zuschreibung des Stückes an Leonardo da Vinci.

Abb. 1 a-c: Serie von Erdgloben, 1984/85: (a) München, Privatbesitz (b) New York, Privatbesitz (c) Mijas, Privatbesitz. (© Stefanie Friedrich, Archäologische Sammlungen München; Katie Orlinsky, New York City; Paco Pérez, Mijas (E))

Der sog. Da-Vinci-Globus und seine Geschwister 

Der Sammler präsentiert seine Trouvaille im Journal der Washington Map Society, in Interviews und Vorträgen weltweit. Gegenargumente von Wissenschaftlern und Zweifel von Journalisten finden bei ihm kein Gehör. 2018 publiziert er eine Monographie „The Da Vinci Globe“ (Newcastle upon Tyne 2018). Wissenschaftler:innen führen neue Gegenargumente ins Feld. Der Sammler bleibt unbeeindruckt. Die Wissenschaftler:innen – mittlerweile ein multinationales, interdisziplinär kooperierendes Team – erfahren von drei exakt gleichen weißlichen Globen in Privatbesitz in München, New York und Mijas (Abb. 1). Die Parallelexemplare zeigen ein identisches Kartenbild und identische Produktionsfehler: eine verquetsche Gesamtform, eine verwaschene Äquatorzone, Feilenspuren, einen Riesen-‚Krater‘ auf der südamerikanischen Landmasse (Abb. 1), Löcher und Knötchen (Abb. 3c). 

Die vier Globen bilden also eine Serie. Das heißt: Sie müssen mittels ein und derselben Negativform produziert worden sein. Das wiederum heißt: Eine Negativform, präsumtiv aus Silikon, muss vier Mal, vielleicht auch öfter, mit einer flüssigen, rasch aushärtenden Masse ausgeschwenkt worden sein. Vereinfacht gesagt: Es handelt sich vier Mal um Guss. Fazit: Der Globus des Sammlers kann nicht aus Straußeneierschalen bestehen. 

Die Provenienz 

Alle vier Globen wurden auf europäischen Flohmärkten erworben. Der Vor-vor-vor-Besitzer des sog. Da-Vinci-Globus hatte das Stück auf einem Flohmarkt in England gekauft; von dort lässt sich das Stück nicht weiter zurückverfolgen. Vielleicht hat schon der Flohmarkthändler dem damaligen Käufer, einem Kartenkollekteur aus Kent, gegenüber von Straußeneiern gesprochen. Ein ausgefallenes Material macht ein Stück immer interessant! Der kentische Kartensammler und die beiden Händler, durch deren Hände der Globus im Folgenden ging, stellten die Materialangabe nicht in Frage, weil sie dem Objekt keine besondere Bedeutung zumaßen. Der Sammler ließ das Material nach dem Erwerb des Stückes in diversen Laboren untersuchen und interpretierte die Ergebnisse dahingehend, dass das Material tatsächlich Straußeneischale und der Globus aus den zwei runderen ‚Hälften‘ der Eier zusammengeklebt sei. Er entwickelt eine (u. W. nicht validierte) Methode, wonach man ausgeblasene Straußeneier durch Wiegen auf das Jahr genau datieren könne. Das Legedatum seiner zwei ‚Eier‘, sei das Jahr 1504 gewesen.

Die Chronologie

Das ‚Legedatum‘ – nota bene: de facto kann es sich nicht um Eier handeln – wird für das Folgende entscheidend: Die New York Public Library (NYPL) besitzt einen Globus, der exakt dasselbe Kartenbild zeigt wie die vier weißlichen Exemplare. Der Globus in der NYPL, der nach zwei seiner Vorbesitzer die Bezeichnung Hunt-Lenox Globe trägt, wird aufgrund des Kartenbildes um 1510 datiert; die Karte beinhaltet (wie die der weißen Vierlinge; Abb. 1) bereits zwei karibische Inseln und einen Teil Südamerikas, aber noch nicht Mittel- und Nordamerika. Angesichts der Entdeckungsgeschichte der Neuen Welt existiert für diese Konstellation nur ein schmaler Zeitslot (tatsächlich ist dieser Slot bloß der terminus post quem für die als Vorlage gedient habende Karte). Die NYPL zählt den Hunt-Lenox Globe zu ihren größten Schätzen und zeigt ihn stolz in der Gottesman Hall im Stephen A. Schwarzman Building. Technisch gesehen besteht der Hunt-Lenox Globe aus zwei halbkugelförmigen Hemisphären, die aus Kupfer getrieben und mittels einer leicht zurückgesetzten Zarge am Äquator wie eine Dose zusammengesteckt sind. In der Zwischenkriegszeit wurde das Erdmodell mittels der Löcher im Nord- und Südpol in einem historisierenden Globengestell montiert. Die Weltkarte ist graviert und reicht, wie am drehbaren digitalen 3D-Modell ersichtlich ist, präzise bis zum Äquator; die Pollöcher sind am 3D-Modell digital kaschiert. Von den Herstellungsfehlern der weißen Serie ist am Hunt-Lenox Globe nichts zu sehen.

Die Eigentümer:innen der weißen Parallelexemplare finden selbst heraus, dass ihre – fehlerhaften – Globen Repliken des Hunt-Lenox Globus sind. Wir alle wissen: Beim Kopieren entstehen leicht Defekte. Wunderheilungen finden nicht statt! Die drei Eigentümer:innen sind jedoch nicht enttäuscht. Sie sind keine Sammler:innen, haben ihr Exemplar aus Spaß gekauft und verbinden damit jeweils ihre eigenen Erinnerungen. Nur der Globensammler bleibt bei seiner Meinung und erklärt die Übereinstimmungen seines Exemplars mit dem Hunt-Lenox Globe damit, dass sein Globus als die Gussform des Kupferglobus fungiert habe. Leonardo oder seine Werkstatt hätten den Guss ausgeführt. Meine Gegenargumente hinsichtlich der technischen (Nicht-)Durchführbarkeit des behaupteten Abguss-Prozesses gehen ins Leere. Der Sammler leitet aus seiner Frühdatierung weiter ab, dass sein Globus älter als der Hunt-Lenox Globe sei. Ja, mit einer Entstehung seines Erdmodells 1504 wäre dieses sogar älter als der kleine Globus, der sich aus den Globenstreifen herstellen lässt, die im Waldseemüller-Ringmann’schen „Medienpaket“ (Jan Mokre) von 1507 der großen Weltkarte und dem Kommentar beigegeben waren. Die These, das 2012 gekaufte weiße Erdmodell stünde in der Abfolge der Renaissance-Globen, welche die Entdeckung der Neuen Welt quasi im Liveticker erfassten, an der Spitze, widerspricht allerdings nicht nur dem Ergebnis des Wissenschaftler:innen-Teams, sondern der gültigen Forschung schlechthin. Der Sammler bleibt dennoch am Ball!

Der Entstehungszeitpunkt der Vierlinge

Auch die Wissenschaftler:innen machen weiter: Sie wollen nun herausfinden, wann die weißen Kopien produziert wurden. Die Herstellungsfehler sprechen dagegen, dass es sich bei den Vierlingen um offizielle Museumsrepliken handelt. Andererseits können die Weißen keine inoffiziellen Kopien sein. Denn kein Museum lässt es zu, dass ein Sammlungsstück von irgendwem irgendwann für private Zwecke abgeformt wird. Die Vierlinge können also nur im Zuge einer offiziellen Faksimilierungskampagne entstanden sein. Aus den Akten der NYPL geht hervor, dass die Bibliothek den Hunt-Lenox Globe seit dem Zweiten Weltkrieg vier Mal faksimilieren ließ; jedes Mal in einer anderen Technik. 

Wie bekommen die Wissenschafler:innen heraus, zu welcher Kampagne die Vierlinge gehören? Sie müssen Exemplare der offiziellen Faksimilier-Kampagnen auftreiben, die produziert wurden, bevor der erste weiße Globus auf einem Flohmarkt in Europa aufgetaucht ist – das war im Herbst 1985. In Teamarbeit gelingen: die Auffindung zweier Faksimiles von 1984/85 (Archiv der New York Public Library; Cincinnati OH, Public Library), die Zuordnung der weißen Vierlinge zu dieser Faksimilierungskampagne und der Ausschluss aus den anderen Kampagnen. Die Kombination der beiden Faksimiles, die das Datum „1985“ tragen, mit den Akten der NYPL ergibt, dass die Bibliothek zwischen Sommer 1984 und Frühjahr 1985 in einer Kooperation mit dem Metropolitan Museum of Arts, New York, Kupferrepliken im Galvano-Verfahren für den Verkauf im Shop der NYPL und im Met Store produzieren ließ. 

Galvano-Repliken werden auf der Basis von Silikon-Negativen hergestellt. Wie oben erwähnt, hatten die Wissenschaftler:innen die identischen Fehler an den Vierlingen von Anfang an auf ein Silikonnegativ zurückgeführt. Nun wird aber zudem sichtbar, dass die Kupfer-Repliken und die weißen Kopien identische Fehler haben; beide Serien müssen also auf ein und dasselbe Silikon-Negativ zurückgehen, das 1984 vom Hunt-Lenox Globe genommen wurde. Damit ist das Datierungsproblem der Vierlinge gelöst. 

Das Ergebnis wird durch naturwissenschaftliche Untersuchungen der drei Parallelexemplare abgesichert; das Exemplar des Sammlers bleibt für uns unzugänglich, ist aber aufgrund der Fotos und Röntgenbilder in der Monographie von 2018 beurteilbar. Entscheidend ist hier, dass die groben Fehler der Vierlinge über die winzigen Imperfektionen der Galvano-Kopien hinausgehen! Auch dafür gibt es eine Erklärung. Damit die Leser:innen den Überblick nicht verlieren, folgt hier eine ‚Familienaufstellung‘. 

Abb. 2: ‚Familienaufstellung‘: oben: Hunt-Lenox Globe (Frankreich [?], um 1510, New York Public Library; unten links: Galvano-Faksimiles des Hunt-Lenox Globe, 1984/85, New York Public Library und Public Library, Cincinnati; unten rechts: Faksimiles des Hunt-Lenox Globe, 1984/85, Privatbesitz München, New York, Mijas). Graphik: Martina Pippal. (© NYPL; Martina Pippal, Wien; Cincinnati, Public Library; Stefanie Friedrich, Archäologische Sammlungen München; Katie Orlinsky, New York City; Paco Pérez, Mijas (E))

‚Familienaufstellung‘

‚Aufgelegt‘ auf diesem virtuellen Billardtisch sind in unserer Abb. 2 sechs Globen. Oben liegt der Hunt-Lenox Globe der NYPL: der ‚Vater‘. In der Reihe darunter sind seine ‚Kinder‘ von 1984/85 platziert: Links liegen die beiden uns bekannten Exemplare der Repliken, die in Galvano-Technik für den Verkauf im Shop der NYPL und im Met Store hergestellt wurden. Rechts befinden sich drei der vier gegossenen, fehlerbehafteten weißlichen Vierlinge, die sicher nicht zum Verkauf gedacht waren. Auf den europäischen Flohmärkten poppte der erste von ihnen im Herbst 1985, der letzte im Sommer 2017 auf. 

Die Verwandtschaftsverhältnisse sind mit freiem Auge erkennbar, wenn man über die Technik Bescheid weiß. In aller Kürze: Es war bereits weiter oben von Silikon-Negativen die Rede. Das sind elastischen Häute, wie wir sie von Backformen kennen: Das Silikon wird flüssig auf das Original aufgepinselt oder gegossen. Sobald es vernetzt (verfestigt) ist, kann die Haut vom Original – in unserem Fall war das der Hunt-Lenox Globe – abgezogen werden. An die Membran legt sich dann im Kupfersulfatbad über mehrere Stunden das Galvano-Positiv in der gewünschten Stärke an. Rekonstruierbar ist, dass bei der Herstellung des Silikon-Negativs 1984 winzige Fehler entstanden, z. B. Bläschen beim kleinen Schiff bei Neufundland. Die Bläschen platzten offenbar auf. Ergo bildeten sich bei jedem Positiv an den entsprechenden Stellen Knötchen (Abb. 3b und c).[1]

Abb. 3: Schiff bei Neufundland: (a) Hunt-Lenox Globe (Frankreich [?], um 1510, New York Public Library) (b) Galvano-Faksimile des Hunt-Lenox Globe (1984/85, New York Public Library) (c) Faksimile des Hunt-Lenox Globe (1984/85, Privatbesitz, New York). (© NYPL; Martina Pippal, Wien; Katie Orlinsky, New York City)

Fazit: Beide Serien (Abb. 2 unten links und rechts) sind ‚Kinder‘ des Hunt-Lenox Globe (Abb. 2, oben), der diese Defekte nicht aufweist (Abb. 3a). Zum Vergleich: In der Biologie käme es durch die fehlerhafte Replikation der DNA zu einer Mutation in der folgenden Generation. 

Bleibt noch die Frage zu beantworten, wie die zusätzlichen groben Fehler an den Vierlingen entstanden. Die erhaltenen Objekte und Zeitzeugenberichte belegen, dass während des Faksimilier-Prozesses von 1984/85 Musterexemplare hergestellt wurden. Manche dieser Produktmuster wurden im Galvano-Verfahren ausgeführt, andere gegossen. Die erhaltenen Positive lassen folgenden Rückschluss zu: Im ersten (minimal fehlerhaften) Silikon-Negativ wurde ein (quellenmäßig belegtes) Zwischenpositiv durch Guss hergestellt. Von diesem muss ein zweites Silikon-Negativ genommen worden sein. Darin müssen Musterexemplare im Galvano-Verfahren respektive als Guss produziert worden sein. Entweder, um Verwechslungen mit dem originalen Hunt-Lenox Globe auszuschließen, oder weil man nichts Präziseres brauchte, hatte das zweite Silikon-Negativ offensichtlich viele Fehler: jene Fehler, die sich sowohl auf den Vierlingen als auch auf einem in Galvanotechnik ausgeführten Musterexemplar (Archiv der NYPL) wiederfinden lassen. 

Bottom line: Vermutlich handelt es sich bei den vier Weißen um Probeexemplare innerhalb des Produktionsprozesses, die ungeplant aus der Werkstatt in die Öffentlichkeit gelangten, und zwar gleich nach Ende der im Frühjahr 1985 abgeschlossenen Faksimilierkampagne.  

Was hier als Ergebnis so leichtfüßig daherkommt, ist das Resultat einer mehrjährigen Kooperation unseres multinationalen Teams, bestehend aus Dr. Thomas Horst (Gastwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr München), Dr. Catharina Blänsdorf (Archäologische Staatssammlung München), Dr. Maria Fernanda Falcon Martinez (Soprintendenza archeologia, belle arti e paesaggio per le province di L’Aquila e Teramo) und der Autorin (Universität Wien). Unterstützt wurden wir von zahlreichen Wissenschaftler:innen und Expert:innen, insbesondere von den Kollegen der NYPL und der seinerzeitigen Managerin des Met Stores, ferner von Karten- und Globenhändlern, vor allem aber von den Eigentümer:innen der drei weißen Parallelexemplare. Unsere Ergebnisse haben wir im Rahmen des XV. internationalen Symposiums der Coronelli-Gesellschaft am 28. September 2023 in der Staatsbibliothek zu Berlin in Form eines Kurzvortrags und eines Videos präsentiert. Ausführlicher werden sie im Herbst 2024 in den Globe Studies/Der Globusfreund erscheinen.

Spannend bleibt es trotzdem auch weiterhin, und zwar aus einem anderen Grund: Noch wissen wir nicht, ob sich der Sammler mit unseren Ergebnissen auseinandersetzen und uns sein Exemplar zugänglich machen wird, so dass es exakt unter denselben Bedingungen naturwissenschaftlich untersucht werden kann wie die drei Parallelexemplare. 

Autorin:

Martina Pippal lehrt am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. Ihr besonderes Interesse gilt der Rolle der visuellen Medien bei der Schaffung von Denk- und Empfindungssystemen. Wissenschaft, universitäre Lehre und Kunst verbindet sie durch kinesthetic learning und artistic research


[1] Stefaan Missinne, The Da Vinci Globe, Newcastle upon Tyne, 2018, Abb. auf S. 158.