Historische Fakten und religiöse Identität, oder: von den zwei Wahrheiten
Gerhard Langer
15.12.2023
Das Judentum basiert maßgeblich auf der Überlieferung eines Manns, dessen wahre Identität im Dunkeln bleibt. Das Christentum geht weit weniger auf einen historischen Jesus, als auf findige Interpreten seiner Botschaft zurück, und der Islam wurde von einem Propheten begründet, dessen Leben von vielen Mythen umrankt ist. Wie lässt sich damit umgehen, wenn historische Fakten der religiösen Überlieferung zum Teil entgegenstehen?
Alles Fake?
Als Bibelwissenschaftler und Judaist beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit der Frage, wie religiöse Identität an Geschichte gebunden ist, und in wieweit Geschichte in diesem Fall zu verstehen ist. Zweifellos gilt, dass das Verständnis von Geschichte sich gewandelt hat. Spiegelt Geschichte faktengetreu die historische Realität, oder soll sie vor allem identitätsstiftend und sinndeutend sein? Und was die Bibel betrifft: Welchen religiösen Wert hat dieses Buch, wenn sein Inhalt nicht das Produkt einer Gottesoffenbarung ist, die sich an historische Gegebenheiten mit historischen Persönlichkeiten knüpft, sondern das Ergebnis eines langen Überlieferungsprozesses, geschrieben von alten (oder jungen) weißen (bzw. weisen) Männern, ist? Erliegt man nicht schnell radikaler Religionskritik, wenn man von historisch-kritischen Untersuchungen hört, die den Exodus eines ganzen Volkes für eine maßlose Übertreibung oder gar Erfindung halten, wenn Abraham, auf den sich drei große Religionen stützen, möglicherweise nie gelebt hat, wenn Salomo, der große Friedenskönig und Tempelbauer, aller Wahrscheinlichkeit nach nie existierte? Und der Ort am Sinai, wo sich die zentrale biblische Offenbarung an das Volk Israel ereignet haben soll, war schon in der Antike nie genau lokalisierbar und möglicherweise lediglich ein Symbolort. David agierte, so meinen Wissenschaftler, nie als großer König, sondern eher als eine Art Provinzbürgermeister, und für das für die Rückkehr aus dem babylonischen Exil so wichtige Dokument des Kyrus haben wir bis heute keinen außerbiblischen Beleg. Zahlenangaben sind heillos übertrieben, und selbst die antiken Historiker – natürlich nicht nur die jüdischen – bildeten Geschichte nicht faktengenau ab, sondern erzählten für die Gruppe, die Ethnie, die Herrscher passende oder auch bewusst kritische Geschichte(n). Daran änderte sich übrigens auch bis in die Neuzeit wenig.
Die Botschaft und der Bote
Um kritischen Einwürfen entgegenzuwirken, hat der bedeutende jüdische Philosoph Maimonides bereits um 1200 pointiert in der 8. seiner 13 Glaubensgrundlagen formuliert, dass es keinen Zweifel daran geben dürfe, dass Mose die Tora von Gott bekommen und unverfälscht weitergegeben habe. Moshe Zaldman und Nechemia Coopersmith, um nur zwei moderne Stimmen zu nennen, behaupteten 2006:
So wie man mit einem Märchen über einen versunkenen Kontinent aufläuft, funktioniert es auch nicht, ein ganzes Volk zum Spaß davon zu überzeugen, dass seine Vorfahren das einzigartigste Ereignis in der menschlichen Geschichte erlebt hätten. Jeder wüsste sofort, dass es eine Lüge ist. Tausende Jahre wurde anerkannt, dass die Geschehnisse am Berg Sinai im Zentrum der jüdischen Geschichte stehen. Welche andere Erklärung gibt es dafür? Nur ein einziger Sachverhalt kann erklären, warum ein Volk einer solchen Behauptung Glauben schenkt: Es ist die Wahrheit. Wenn die Ereignisse nicht stattgefunden hätten, würde jeder wissen, dass es eine Lüge ist. Zu behaupten, ein Volk habe eine Offenbarung erlebt, ist nur möglich, wenn es wahr ist.“
Leider ist mein Gedächtnis nicht mehr perfekt. Deshalb kann ich nicht mehr sicher sagen, welcher bedeutende jüdische Schoah-Theologe demgegenüber den (scheinbar) paradoxen Satz geprägt hat, dass es keine Rolle spiele, ob Mose tatsächlich gelebt hat. Hauptsache sei, dass es die Gebote am Sinai gegeben habe. Damit wird nichts weniger behauptet, als dass es letztlich unwichtig sei, welchen historischen Gehalt eine Tradition hat, wenn sie für die Gemeinschaft über die Zeit von Bedeutung geworden ist. Die Botschaft ist wichtiger als der Bote. Der Regensburger Bibelwissenschaftler Christoph Dohmen hat in seinem großen zweibändigen Kommentar zum Buch Exodus klar gezeigt, wie sehr schon in der Bibel die Person des Mose hinter die Botschaft zurücktritt. Er wird schließlich selbst zum Text, zum Buch. Die bedeutenden rabbinischen Gelehrten, die im 1. Jahrtausend nach allgemeiner Zeitrechnung das Judentum maßgeblich prägten, fühlten sich als die einzig legitimen Interpreten der Botschaft. Dabei verstanden sie sich selber als Vermittler zwischen Mensch und Gott, traten somit in gewisser Weise in die Fußstapfen des historischen oder doch besser konstruierten Mose. Mose selbst kann gelegentlich in den Hintergrund treten. Das ganze Volk, so eine gewichtige Überlieferung, kann kollektiv am Sinai jedes einzelne Wort von Gott empfangen und ihm zugestimmt haben.
Auf der anderen Seite gibt es die Vorstellung, dass Mose nicht nur die schriftliche Botschaft, die sich im Bibeltext der fünf Bücher Mose niederschlägt, sondern darüber hinaus eine Reihe von Gesetzen (halacha) erhalten habe, die nur mündlich überliefert wurden. Insgesamt hätte Mose auf dem Sinai von Gott mündlich jegliche relevante Offenbarung erhalten. Niedergeschrieben und ausgelegt haben sie freilich erst die Weisen, die Rabbinen selbst. Damit gingen sie weit über den Bibeltext hinaus und kreierten in gewisser Weise ihren eigenen Mose, um die Tradition lebendig zu erhalten und das Judentum auch in völlig geänderten Zeiten nicht von der Überlieferung abzuschneiden. Aufklärer und liberale Juden haben dieses Gedankengebäude schließlich stark kritisiert, bot es doch ihrer Meinung nach den Rabbinen und in der Folge der jüdischen „Orthodoxie“ eine Handhabe, die jüdische Lehre ausschließlich für sich zu beanspruchen. Zudem begann man zwischen zeitbedingten und überzeitlich gültigen Teilen der Botschaft zu unterscheiden, eine Unterscheidung, die an den Grundfesten der jüdischen Tradition rüttelte.
Die Grenzen der Interpretation
Im Zuge des so genannten Memory Turn hat es in den letzten Jahrzehnten in den verschiedenen Disziplinen zurecht ein Nachdenken darüber gegeben, dass Geschichte nie deutungsfrei ist, dass Perspektive und Standpunkte eine Rolle spielen, dass Ergebnisse überprüft werden müssen. Gleichzeitig wehrt man sich ebenso zurecht gegen eine völlige Relativierung von Wahrheit. Der antisemitische, die Schoah beharrlich leugnende, aus der römisch-katholischen Kirche ausgeschlossene Bischof Richard Williamson wurde 2019 wegen Volksverhetzung verurteilt, obwohl er sich auf die Freiheit der Interpretation und Meinungsäußerung berief. Die Gaskammern sind eben nicht „fake news“.
Zwei „Wahrheiten“
Um das Dilemma zwischen Faktenhistorie und religiöser Überlieferung zu lösen, muss der Begriff „Wahrheit“ in seiner Tiefendimension verstanden werden. Wahr ist demnach einerseits eine recherchierte und mehrfach geprüfte „Tatsache“, aber auch eine religiöse Überlieferung, eine Erzählung oder ein Ereignis, die, in einer kulturellen oder religiösen Gemeinschaft zur Traditionsbildung geführt, Glauben erschlossen und Identität gestiftet haben. Ein solches Ereignis war zweifellos die Gabe der göttlichen Weisung am Sinai. Der Sinai ist in einem tieferen Sinn „wahr“, als er die geschlossene Gemeinschaft des Judentums an einer entscheidenden Situation religiöser Selbstfindung repräsentiert. Mose ist eine „wahre“ Gestalt als zentrale Figur der Gesetzgebung, unabhängig davon, ob er als fiktiver oder realer Charakter existierte.
Treffen die beiden „Wahrheiten“ aufeinander, so muss in der Gemeinschaft ein Diskussionsprozess entstehen. Einen solchen hat die katholische Kirche beispielsweise erlebt, als der Kult um Anderl von Rinn in Tirol von Bischof Stecher aufgehoben wurde. Anderl von Rinn war als ein angeblich von Juden ermordetes Kind ab dem 17. Jh. als Märtyrer verehrt worden. Anderl war eine Legende, eine Erfindung des Arztes Hippolyt Guarinoni. Mit dem Verbot des Anderlkultes stellte sich die Kirche auch ihrer eigenen antijüdischen Vergangenheit, die sie in den letzten Jahren kritisch hinterfragt. Fakten können religiöse Wahrheiten jedoch nur dann erschüttern, wenn diese auf Sand gebaut sind. Dem Berg Sinai können sie definitiv nicht schaden.
Lesetipps:
Christoph Dohmen, Exodus 1-18, Freiburg u.a.: Herder 22021.
Christoph Dohmen, Exodus 19-40, Freiburg u.a.: Herder 32022.
Christian Frevel, Geschichte Israels, Stuttgart 22018.
Jens Schröter, The Criteria of Authenticity in Jesus Research and Historiographical Method, in: Ch. Keith – A. Le Donne (Hrsg.), Jesus, Criteria, and the Demise of Authenticity, London 2012, 49–70.
Autor:
Gerhard Langer ist Professor für Judaistik am gleichnamigen Institut in Wien. Er forscht vor allem zu jüdischer Antike, jüdischer Kultur und Literatur sowie zum Dialog der Religionen. In seiner Freizeit schreibt er Krimis.