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Wie Karl Lueger aus der rumänischen Geschichte verschwand

Andreea Kaltenbrunner

13.10.2023

Es ist bekannt, dass Karl Luegers Einfluss über die Grenze der österreichisch-ungarischen Monarchie hinausging. Während die Verbindungen der Christlichsozialen zu französischen Antisemiten um Édouard Drumont (1844-1917) heute gut untersucht sind, befinden sich Studien über Luegers Rezeption in Osteuropa, etwa in Rumänien, noch im Anfangsstadium. In Rumänien war der Nationalhistoriker Nicolae Iorga (1871-1940) einer der wichtigsten Träger christlichsozialer Ideen. Iorgas Nationaldemokratische Partei (Partidul Naționalist Democrat), gegründet zusammen mit dem ‚führenden‘ Antisemiten A. C. Cuza 1910, wurde inoffiziell als die Christlichsoziale Partei Rumäniens bezeichnet. Iorga drückte außerdem seine Wertschätzung für den Wiener Bürgermeister in zwei biographischen Skizzen aus, welche er für seine Zeitung Das rumänische Volk (Neamul Românesc) verfasste. Die Beiträge sind auch in Menschen, die gelebt haben (Oameni cari au fost) erschienen, einem Kompendium über wichtige Persönlichkeiten, welches Iorga ab 1934 in mehreren Bänden publizierte. 

Abb. 1: Büste Nicolae Iorgas im Garten seines Elternhauses in Botoșani (Foto der Autorin)

Als ich während eines meiner Forschungsaufenthalte in Bukarest eine kommunistische Ausgabe des erwähnten Buches mit der Originalversion von 1934 verglich, stellte ich fest, dass die Beiträge zu Karl Lueger darin nicht mehr enthalten waren. Auch in einer Ausgabe von 1990 fehlten Iorgas Artikel über Lueger. Daher stellt sich die Frage: Warum wurden sie entfernt, und wurden sie jemals wieder veröffentlicht?

In diesem Beitrag zeige ich auf, warum das kommunistische Regime in Rumänien einen auf den ersten Blick unwichtigen Aspekt der Geschichte fälschte und welche Folgen diese Fälschung hatte. Dazu werde ich fünf Ausgaben von Iorgas Werk Menschen, die gelebt haben, die zwischen 1934 und 2009 veröffentlicht wurden, analysieren und vergleichen.

„Hoch lebe unser Freund Lueger!“

Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass der Wiener Bürgermeister einer der beliebtesten Österreicher im Königreich Rumänien um 1900 war. Grund dafür waren Luegers Einsatz für die Rumänischsprachigen in der Habsburgermonarchie, seine Abneigung gegenüber den Ungarn und nicht zuletzt sein Antisemitismus. Das Nationsbildungsprojekt der rumänischen politischen Elite sah eine Vereinigung aller Rumänen in den Gebieten der Habsburgermonarchie vor. Was den Antisemitismus betrifft, hatte das Rumänien jener Zeit den Ruf, eine Art legalen Antisemitismus zu propagieren, da das Land dem Großteil der Juden die Staatsbürgerschaftsrechte vorenthielt. 

Zeitungen in Rumänien spekulierten lange über einen möglichen Besuch Luegers. Egalitatea schrieb zum Beispiel Anfang September 1898, dass Lueger demnächst Iași besichtigen würde, um dort eine antisemitische Versammlung abzuhalten.[1] Iași, die Hauptstadt der Region Moldau (nicht zu verwechseln mit der heutigen Republik Moldau), wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer mehrheitlich jüdischen Stadt und zu einem Zentrum jüdischer Kultur und gilt als Entstehungsort des modernen Antisemitismus in Rumänien. 

Zu einem Besuch Luegers kam es allerdings erst im Juni 1906, als der Wiener Bürgermeister als Mitglied der österreich-ungarischen Delegation am 40-jährigen Regierungsjubiläum König Carols I. in Bukarest teilnahm. Damit erreichte Luegers Popularität in Rumänien einen Höhepunkt. Schon während der Fahrt begrüßten Menschenmengen bei den Bahnstationen diesen „großen Freund der Rumänen“. Nach dem Besuch wurden Straßen in Bukarest und Iași nach Lueger benannt.

Abb. 2: Während des Ersten Weltkrieges hatte die Britische Mission ihre Adresse in der Karl-Lueger-Straße in Iași (Quelle: Centre historique des archives, Vincennes)

Es war dieser Besuch Luegers, der Iorga veranlasste, das erste Porträt des Wiener Bürgermeisters zu verfassen. Dieser wird darin als geschickter Politiker und kluger Verwalter dargestellt, der Wien vor dem Niedergang, den die Juden verursacht hätten, gerettet habe. Nach Auffassung Iorgas steht Lueger „für den kämpfenden und siegreichen Antisemiten“. Lueger sei kein großer Theoretiker und auch kein Anhänger des rassischen Antisemitismus (was übrigens auch von der Forschung bestätigt wird), so Iorga, sondern dessen Stärke bestehe darin, dass er den Einfluss der Juden zurückzudrängen wisse. Der Bürgermeister sei „sich mehr als jeder andere der räuberischen Verjudung (rum. jidovizarea) mit all ihren Folgen des Schmutzes, der Demoralisierung bewusst, die sein geliebtes Wien bedrohte“. Der Historiker fühlte sich außerdem durch Luegers Erfolge und durch die den Rumänen entgegengebrachte Aufmerksamkeit in seiner politischen Tätigkeit bestärkt: „Dass Lueger zu uns kommt, ist an sich schon eine Botschaft. Er kommt zu denen, die gegen das Judentum und seine Freunde kämpfen. Wir begrüßen diese Botschaft und rufen: ‚Lang lebe unser Freund Lueger!‘“ Der zweite Artikel erschien anlässlich Luegers Tod 1910 und ist im gleichen antisemitischen Ton verfasst. 

Die Geschichte wird umgeschrieben

Nicolae Iorga gilt bis heute als einer der größten, wenn nicht überhaupt der wichtigste Historiker Rumäniens. Neben seinen zahlreichen Studien wurde Iorga durch seine politische Tätigkeit bekannt, welche mit seiner Ermordung durch die faschistische Legionärsbewegung 1940 ein tragisches Ende fand. Nachdem Iorga jahrelang eine junge Generation von nationalistischen Studenten, die später den Faschismus vertreten würden, beeinflusst hatte, entwickelte sich ein Machtkampf mit ihnen, den Iorga mit seinem Leben bezahlte. 

Nach dem Tod des Historikers gerieten seine Bücher in Vergessenheit. Erst als Nicolae Ceaușescu 1965 Generalsekretär der Kommunistischen Partei wurde und seine nationalkommunistische Ideologie durchsetzte, wurde Iorga von der Historiographie wiederentdeckt. In der ersten nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Biographie Nicolae Iorga gegen den Hitlerismus geht es darum, den Nationalhistoriker als Antifaschisten, als Kämpfer für die Arbeiter und als Gegner NS-Deutschlands darzustellen. 

Als 1967 eine neue Ausgabe von Menschen, die gelebt haben herauskam, trug sie die Spuren der neuen Ideologie: 26 von insgesamt 92 Personen, darunter auch Karl Lueger und weitere Figuren mit kirchlichen und politischen Funktionen, waren gestrichen worden. Der Herausgeber liefert wenige Erklärungen für diese Auslassungen, meint aber, dass „man selbst dem größten Kulturmenschen nicht verzeihen kann, wenn er die nationalen Interessen verrät.“

1975 erschien eine neue Ausgabe, die noch stärker an Ceaușescus nationalkommunistische Doktrin angepasst war. In der Tabelle in Abb. 3 sind elf ausländische Persönlichkeiten aufgelistet, über die Iorga in seiner Ausgabe von 1934 Beiträge geschrieben hat. In der Ausgabe von 1975 sucht man jedoch vergeblich nach ihnen, sodass das Buch mit der ursprünglichen Version kaum noch etwas gemeinsam hat. Die Herausgeber rechtfertigten die Streichungen damit, dass sie Rücksicht auf das Verlagsprofil hätten nehmen müssen und daher den Schwerpunkt auf rumänische Herrscher, Militärführer und andere führende rumänische Persönlichkeiten gelegt hätten.

Abb. 3: Ausländische Persönlichkeiten in Nicolae Iorgas Menschen, die gelebt haben, Band I, Ausgaben von 1934, 1967 und 1975

Iorgas Artikel über Lueger waren schlichtweg antisemitisch und verrieten eine starke ideologische Nähe zum rechtsextremen Lager. Während die kommunistische Propaganda sich bemühte, Iorgas „Feindseligkeit gegenüber den faschistischen, hitlerfreundlichen Organisationen in Rumänien“ nachzuweisen, hätten seine Texte dieses Narrativ stark in Frage gestellt. 

Luegers Rückkehr

Interessanterweise stellte das Ende der kommunistischen Herrschaft in Rumänien keine Zäsur dar, denn die Ausgabe von 1990 weicht am stärksten von der Originalausgabe ab. Der Fokus liegt nun auf Iorgas Artikeln über Nationaldichter und Schriftsteller mit oft mehreren Beiträgen zu denselben Personen, wobei der Nationaldichter Mihai Eminescu an erster Stelle steht. 

Die Wende kam später. Valeriu und Sanda Râpeanu, dieselben Herausgeber:innen, die bereits die Ausgabe von 1975 besorgt hatten, publizierten 2009 eine neue Version, welche mit der Originalausgabe von 1934 fast vollständig übereinstimmte.

Auch wenn Menschen, die gelebt haben zu Iorgas eher unbedeutenden Büchern zählt, erschien beinahe mit jeder politischen Zäsur eine neue Version, welche den Nationalhistoriker jeweils im Licht der offiziellen Doktrin neuinterpretierte. Während des kommunistischen Regimes verschwand der Wiener Bürgermeister Karl Lueger aus dem Buch des großen Nationalhistorikers, der in ein (national)kommunistisches Geschichtsnarrativ integriert wurde. Dadurch entstand ein kaschiertes Bild von Nicolae Iorga, welches noch lange nach 1989 perpetuiert wurde. Dies führte dazu, dass wir bis heute wenig über Iorgas Antisemitismus, den Einfluss der Christlichsozialen Partei auf sein politisches Denken und überhaupt über Luegers Verbindungen zu Rumänien wissen. Erst eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesen Aspekten wird die Wege des transnationalen Antisemitismus um 1900 besser ausleuchten können.

Lesetipps:

Iurie Colesnic, Nicolae Iorga. Oameni cari au fost (Chișinău: Cartea moldovenească, 1990).

Titu Georgescu, Nicolae Iorga împotriva hitlerismului (București: Editura Științifică, 1966).

Nicolae Iorga, Oameni cari au fost (București: Fundația pentru Literatură și Artă, 1934).

Ion Roman, Nicolae Iorga. Oameni cari au fost (București: Editura pentru literatură, 1967).

Nicholas M. Nagy-Talavera, Nicolae Iorga. A Biography (Iași/Oxford/Portland: The Center for Romanian Studies, 1998).

Valeriu Râpeanu, Sanda Râpeanu, Nicolae Iorga. Oameni cari au fost (București: Editura Militară, 1975). 

Valeriu Râpeanu, Sanda Râpeanu, Nicolae Iorga. Oameni cari au fost. Bd. 1-2 (București 2009). 

Autorin:

Andreea Kaltenbrunner war bis Herbst 2023 Postdoktorantin am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Aktuell ist sie am Lehrstuhl für Geschichte Südost- und Osteuropas der Universität Regensburg tätig, wo sie im Rahmen ihrer Habilitationsarbeit zu transnationalen Verbindungen des Antisemitismus im Russischen Reich, in Österreich-Ungarn und in Rumänien Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts forscht.


[1]„Intrunire Antisemita“, in Egalitatea, 9. September 1898, 7.