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Gefälschter Raum, gefälschte Zeit, echte Kunst – Fake, Irrtum, Unterstellung

Martina Pippal

15.6.2023

Der falsche Raum

Der österreichische Schriftsteller Clemens Setz hat uns in seinem Roman „Monde vor der Landung“ (2023) mit der absonderlichen Hohlwelttheorie (und ihren Anhänger:innen) bekannt gemacht, der zufolge sich die Erdkruste an die Innenseite einer Kugel schmiege. Landläufig bekannt ist der Flat Earth Error, wonach die Christ:innen im Mittelalter geglaubt hätten, die Erde sei eine Scheibe. Der Hinweis auf diesen „Irrtum“ lässt sich bis heute in Schulbüchern finden. Danach sei das schon im Altertum bekannte Wissen um die Kugelgestalt der Erde – unter dem Druck der Kirche – im Mittelalter verloren gegangen. Tatsächlich haben vereinzelte christliche Theologen (z. B. Lactantius, ca. 250 – ca. 325) gemeint, die Erde sei flach. Grundsätzlich aber blieb die Kugelgestalt auch im Mittelalter Lehrmeinung und damit Wissen, das in Europa – bis zur Gründung der ersten Universitäten ab dem 12. Jahrhundert – nota bene in den Kloster- und Domschulen weitergegeben wurde.

Wieso konnte dem Mittelalter der Flat Earth Error unterstellt werden? Verantwortlich dafür waren unter anderem die sogenannten TO-Karten: Ab dem Frühmittelalter lassen sich in Codices abstrakte Darstellungen der Erdteile Europa, Afrika und Asien finden. Die drei Kontinente sind durch das Mittelmeer sowie Don und Nil voneinander getrennt und vom Ozean ringförmig umschlossen. Da die Karten geostet (nicht wie die heutigen genordet) waren, bildeten die drei trennenden Gewässer ein Tau-Kreuz, eine Form, die dem Buchstaben „T“ im griechischen Alphabet entspricht. Das „T“ ist dem „O“-förmigen Wasserkranz eingeschrieben – daher die Bezeichnung „TO-Karten“. 

Abb. 1: Sogenannte TO-Karte des Isidor von Sevilla (in: Etymologiae, 623 n. Chr.); gedruckt von Günther Zainer (Guntherus Ziner), Augsburg, 1472 (Quelle: wikimedia commons)

Diese TO-Karten gehen auf spätantike Weltkarten zurück. Im 2. Jahrhundert n. Chr. hatte der griechische, damals im intellektuellen Hotspot Alexandria tätige Universalgelehrte Claudius Ptolemäus eine Karte der „Ökomene“ (der aus damaliger Sicht bewohnten Welt) geschaffen. Die Karte ist verloren, aber aufgrund der erhaltenen Listen hunderter Städte, die mit Koordinatenangaben versehen wurden, rekonstruierbar. Da Ptolemäus wusste, dass sich die „Ökomene“ auf einer links und rechts beschnittenen Kugelzone ausdehnt, unternahm er mehrere Abstraktionsschritte, um die sphärische Grundfläche zuerst auf zwei Kegelstümpfe und schließlich auf eine Plankarte zu projizieren. 

Abb. 2: Claudius Ptolemäus, Karte der „Ökomene“ (in: Geographike Hyphegesis, ca. 150 n. Chr., verloren); Rekonstruktion (Florenz, Mitte des 15. Jahrhunderts), basierend auf der Übersetzung des durch Maximus Planudes im späten 13. Jahrhundert wieder aufgefundenen griechischen Manuskripts ins Lateinische durch Jacobus Angelus (1406). London, The British Library (Quelle: wikimedia commons)

Was am Übergang zum Mittelalter im Westen tatsächlich verlorenging, waren das Interesse und das Knowhow der Projektionsverfahren. So wurde nur noch die Plankarte tradiert und dabei so adaptiert, dass jene Aussage getroffen werden konnte, die damals zentral war: Jerusalem läge im Zentrum der Welt; diese sei von dort aus – durch Christi Tod am Kreuz – erlöst worden. Die mittelalterlichen Karten sind also kein naturalistisches Abbild der effektiven geographischen Situation, sondern ein abstraktes Zeichen, das eine theologische Vorstellung transportiert. Damit sind sie den heutigen Verkehrszeichen, Hinweisschildern und Icons ähnlich, die – profane – Informationen in einer kompakten Form kommunizieren. 

Es war somit nicht die mittelalterliche Kirche, welche die Form der Erde verfälschte. Vielmehr begannen sich neuzeitliche Gelehrte von der vorangehenden Epoche abzusetzen. Um etwaigen Gegner:innen den Wind aus den Segeln zu nehmen, wies etwa Nikolaus Kopernikus auf die – freilich recht isolierte – Ansicht von Lactantius hin. Im 19. Jahrhundert popularisierte der Schriftsteller Washington Irving den angeblichen Irrtum der „dunklen“ Zeit, um die eigene Epoche als aufgeklärt zu definieren, die eigene Überlegenheit zu dokumentieren und die Kirche als Verursacherin des mittelalterlichen „Irrglaubens“ zu brandmarken; tatsächlich falsch war also das Bild, das im 19. Jahrhundert von der Entwicklung der Wissensgeschichte im Mittelalter gezeichnet wurde.

Bezeichnend dafür ist, dass ein Holzstich, der 1888 erstmals in einem populärwissenschaftlichen Buch von Nicolas Camille Flammarion publiziert worden ist, für eine authentische Veranschaulichung des Erkenntnisgewinnes am Beginn der Neuzeit gehalten wurde: Der „Wanderer am Weltenrand“ kniet vor der Naht zwischen Erdscheibe und Himmel und erkennt – Kopf und Wanderstab durch das Himmelsgewölbe steckend – die Weite des Universums. Die Illustration wurde ins frühe 16. Jahrhundert datiert und auch in Schulbüchern publiziert. De facto stammt sie aus dem späten 19. Jahrhundert. Fatalerweise betoniert sie den vermeintlichen Flat Earth Error des Mittelalters weiter in unseren Köpfen ein.

Abb. 3: „Der Wanderer (Pilger) am Weltenrand“, anonym, 1888, aus: Camille Flammarion, L’Atmosphère: Météorologie Populaire (Paris, 1888), S. 163 (Quelle: wikimedia commons)

Abwegig erscheint angesichts des Distanzbedürfnisses des 19. Jahrhunderts gegenüber dem Mittelalter, dass damals eine neue Welle der Flat Earth Theory ihren Ausgang nahm, die – trotz naturwissenschaftlicher Gegenbeweise sonder Zahl – bis heute ihre Anhängerschaft hat. Da die Flacherdler:innen überzeugt sind, die Wahrheit zu kennen, handelt es sich bei ihnen um Wissenschaftsleugner:innen, vielleicht auch um Verschwörungstheoretiker:innen, per se aber um keine Fälscher:innen. Problematischer ist die Rolle jener, welche die Flat Earth Models – überkuppelte Holz- oder Kunststoffscheiben, auf denen das Kartenbild der Erdoberfläche (entsprechend verzerrt) ausgebreitet dargestellt ist – gegen ihr besseres Wissen produzieren und vertreiben und damit zur Verbreitung dieses abstrusen Weltmodells beitragen.

Die verdrehte Zeit

Kniffliger als beim Raum ist die Situation beim Thema Zeit: Im Rückblick auf die Antike ist immer wieder vom zyklischen Denken – vom Denken in sich wiederholenden Jahresabläufen – die Rede. Dessen ungeachtet hat die Antike auch das historische Denken eingeführt. Von den griechischen Geschichtsschreibern seien bloß Herodot und Thukydides genannt, von den Römern Titus Livius, Tacitus und Plinius der Ältere. In Ostrom schrieb Prokopios von Caesarea noch im 6. Jahrhundert seine achtbändige Geschichte der Kriege des byzantinischen Kaisers Justinian I. 

Geschichtsschreibung basiert auf zwei großen Paradigmen: auf Chronologie und Logik. Es gibt Ursache und Wirkung. Eins geht aus dem anderen hervor. Ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. überformten aber christliche Theologen die Vorstellung von Geschichte. Die Logik behielten sie als Parameter bei, die Chronologie aber stellten sie quasi auf den Kopf. Origenes und seine christlichen Gelehrten-Kollegen kreierten in der intellektuell immer noch führenden Hafenstadt Alexandria die These, Christus und das Neue Testament seien der Ursprung, das Alte Testament wäre die Folge. Das Neue Testament präge das Alte wie ein Siegelring weiches Wachs. Ereignisse im Zweiten Testament (z. B. die Auferstehung Christi) wären der Grund dafür, dass Ähnliches (z. B. das Ausgespuckt-Werden des Propheten Jonas vom Seeungeheuer; Jona 1,1-2,11) im Ersten Testament stattgefunden hätte. Und: Die Ähnlichkeit des neu- und des alttestamentlichen „Ereignisses“ würde eine Art Schleuse bilden, durch die Gnade vom Neuen in das Alte Testament einströme. 

Dieses Modell, das unter dem Begriff Typologisches Denken firmiert, hatte das Ziel, das Alte Testament in den christlichen Heilskosmos zu integrieren. Hier wurde die Quadratur des Kreises versucht: Das Erste Testament als gut und geheiligt zu definieren (es gab auch andere Theorien!), aber dafür das Zweite Testament zu preisen. Das Christentum wäre also überlegen und einziger Gnadenquell. Chronologie und Kausalverhältnis wurden umgekehrt, verbunden mit einem heute nicht mehr akzeptablen Hegemonialanspruch.

Das größte und wichtigste Kunstwerk, das die Welt typologisch erklärt, befindet sich gleich vor den Toren Wiens: Es ist das ca. 1170 bis 1181 ausgeführte Goldschmiedewerk, das ursprünglich die Kanzel der Stiftskirche von Klosterneuburg verkleidete. Ein lothringischer – aus Verdun stammender oder dort tätiger – Goldschmied namens Nicolaus schuf hunderte Emailplaques, die wohl fertig nach Klosterneuburg geliefert und hier montiert wurden. Die „Gnadenschleusen“ sind auf der Kanzel (seit 1329 ein Flügel-Retabel) durch einander angeglichene Kompositionen in suggestiver Weise augenfällig gemacht.

Abb. 4: Nicolaus von Verdun, Goldschmiede- und Emailwerk für die Verkleidung einer Kanzel, ca. 1170–1181. Ursprünglich: Klosterneuburg, Stiftskirche (1329 zu einem Flügel-Retabel umgebaut; heute: Stift Klosterneuburg, Leopoldskapelle). Rekonstruktion des Zustandes von 1181: Petra Schönfelder, 2018 (Copyright: Petra Schönfelder, Wien)

Haben also die mittelalterlichen Theologen und Künstler die Chronologie verfälscht? Hier gilt dasselbe wie beim Raum. Sie dachten sicher ebenso wenig, dass die Chronologie verkehrt verliefe, wie sie glaubten, dass die Erde flach sei. 

Heute zwingen uns die Relativitätstheorie (inklusive Wurmlöcher/Einstein-Rosen-Brücken), die postulierte Dunkle Materie und die nachgewiesenen Schwarzen Löcher dazu, Zeit und Raum tatsächlich nochmals ganz neu zu denken, wobei offen ist, ob wir eine neue Physik brauchen oder alles bequemer mit der alten zu erklären ist.

Lesetipps:

Camille Flammarion, L’atmosphère. Métérologie populaire, Paris 1888.

Günther Hasinger, Das Schicksal des Universums. Die Reise vom Anfang zum Ende, München 2009 (4. Aufl.).

Washington Irving, Die Geschichte des Lebens und der Reisen Christoph’s Columbus (Washington Irving’s sämtliche Werke, Band 1-3), Frankfurt am Main 1828.

Marcia A. Kupfer, Art and Optics in the Hereford Map: An English Mappa Mundi, c. 1300, New Haven / London, 2016.

Martina Pippal, Die Funktion der „schedula“ und die Rolle der Technik bei der Konstruktion von Wirklichkeit am Beispiel des Emailwerks des Nicolaus von Verdun in Klosterneuburg. In: Zwischen Kunsthandwerk und Kunst: Die „Schedula diversarum artium”, Andreas Speer, Maxime Maurège, Hiltrud Westermann-Angerhausen, Hrsg. (Miscellanea Mediavalia. Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln 37, Berlin / Boston 2014), S. 163-180, Taf. 27-32. 

Folker Reichert, Das Bild der Welt im Mittelalter, Darmstadt 2013. 

Thomas Reinhardt, Die Erfindung der flachen Erde. Der Mythos Kolumbus und die Konstruktion der Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Paideuma, Mitteilungen zur Kulturkunde, 53, 2007, S. 161-180.

Jeffrey Burton Russell, Inventing the Flat Earth. Columbus and Modern Historians, Westport 1991. 

Hans Gerhard Senger, Der „Wanderer am Weltenrand“. Ein alter oder altertümelnder Weltaufriss?, in: Christoph Markschies u.a., Hrsg., Atlas der Weltbilder, Berlin 2011, S. 342-352.

Julia Spitaler, Mapping the Flat Error. Der Einfluss visueller Medien auf den Mythos vom mittelalterlichen Glauben an die flache Erde, Bachelorarbeit (Seminar Die Rolle der visuellen Medien bei Wissensvermittlung, Wissensverlust und Fake News“, Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, 2022W.

Jürgen Wolf, Die Moderne erfindet sich ihr Mittelalter – oder wie aus der ‚mittelalterlichen Erdkugel‘ eine ‚neuzeitliche Erdscheibe‘ wurde (Colloquia Academia, Akademievorträge junger Wissenschaftler, Reihe Geisteswissenschaften, Nr. 5), Mainz 2004. 

Autorin:

Foto von Martina Pippal

Martina Pippal lebt und arbeitet in Wien mit besonderem Interesse für die Rolle der visuellen Medien bei der Schaffung von Denk- und Empfindungssystemen. Wissenschaft, universitäre Lehre und Kunst verbindet sie durch kinesthetic learning und artistic researchMartina Pippal lehrt am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien.