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Wie kam es im 5. Jahrhundert zum erfundenen Briefwechsel zwischen einem Heiden und einem Christen? Fälschung als Kompromissversuch in Byzanz

Cosimo Paravano

15.5.2023

Was passiert, wenn innerhalb eines Kulturkreises neue Ideen oder Werte eingeführt werden, die sich schwer oder nur teilweise mit den vorherigen in Einklang bringen lassen? Diese Frage beschäftigt uns täglich in verschiedenen Ausprägungen, aber jede Kultur – sowie auch jede Gruppe von Personen und jede einzelne Person – findet darauf andere Antworten. Eine davon kann jedenfalls darin bestehen: Es kommt zu einer Adaption bzw. einer Fälschung „historischer“ Belege, die diese Diskrepanz ausblendet und die neuen Ideen rückwirkend in die Vergangenheit projiziert.

Die frühbyzantinische Zeit bildet bei der Wahl dieser Strategie keine Ausnahme. Diese Periode beginnt etwa im Jahr 330 mit der Neugründung der Stadt Konstantinopel durch Kaiser Konstantin (er regierte 306-337), und unter Theodosius (Kaiser von 379-395) wurde das Christentum zur Staatsreligion des Byzantinischen Reiches. Ein fiktiver Briefwechsel aus dem 5. Jahrhundert zwischen einem berühmten Heiden, dem Rhetoriklehrer Libanius, und einem ebenso berühmten Christen, dem Bischof Basilius von Caesarea, zeigt uns nun, wie eine Fälschung „historischer“ Belege aussehen konnte. Aber betrachten wir zuerst das allgemeine Umfeld.

Meistererzählungen zu Heid:innen und Christ:innen…

Seit Beginn der byzantinischen Epoche, aber auch schon davor, stellte sich für Christ:innen die Frage, wie mit dem kulturellen Erbe der nicht-christlichen Antike umgegangen werden sollte, oder besser: wie man sich davon abgrenzen und die Unterschiede verdeutlichen könnte. Immerhin stand man untrennbar in der Nachfolge der Antike. Die faszinierende Geschichte, wie es von einer weitgehend heidnischen Welt zu einer weitgehend christlichen kam, kann man sehr unterschiedlich und aus verschiedenen Blickwinkeln erzählen – heute wie damals. Die Kirchenväter und Kirchenhistoriker des 4. und 5. Jahrhunderts haben diesen Übergang mit großem und triumphierendem Elan geschildert. Was von ihnen als Errungenschaft gefeiert wurde – die Verdrängung der heidnischen Kultur durch das Christentum –, wurde in viel späterer Zeit von dem weniger wohlwollenden und aufklärerisch gesinnten Historiker Edward Gibbon (1737-1794) und von vielen anderen Historiker:innen nach ihm als Merkmal einer dekadenten Zeit eingeordnet[1]. Gibbon betonte vor allem, was er als fortschrittsfeindliche Orientierung dieses Übergangs interpretierte, und eine solche Anschauung ist in der populären Wahrnehmung der frühbyzantinischen Periode heute nach wie vor sehr präsent: Man muss nur an den 2009 erschienenen Film „Agora“ von Alejandro Amenábar denken, in dem es um den Mord an der heidnischen Philosophin Hypatia durch christliche Fanatiker geht. Doch entspricht das Bild, dass Heid:innen und Christ:innen einander immer derart feindlich gegenüberstanden, wirklich den historischen Tatsachen?

Abb. 1: Eine Mosaikdarstellung von Basilius von Caesarea aus der Kirche Hagia Sophia in Kiew (11. Jahrhundert) (Quelle: wikimedia commons)

…und was sie uns nicht zeigen

Wenn man von diesen Meistererzählungen Abstand nimmt, sieht die Realität durchaus anders aus, facettenreicher und auch interessanter. Christin bzw. Christ zu sein bedeutete für jede und jeden etwas anderes. Einer der berühmtesten syrischsprachigen Prediger und Dichter, Jakob von Sarug (451-521), stammte aus Nordmesopotamien, das damals zum Teil dem Byzantinischen Reich angehörte. Er berichtet von einem Dialog, den er mit einem seiner – christlichen – Zuhörer führte: Als Jakob versuchte, sein Publikum davon zu überzeugen, dass echte Christen nicht ins Theater gingen, da man Lustspiele (Mimen) bzw. Spiele mit Tanz und Themen aus der heidnischen Mythologie (Pantomimen) nicht sehen solle, erhielt er zur Antwort:

Aber das ist nur ein Spiel, das ist kein Heidentum.
Welchen Schaden erleidest du, wenn ich lache? 
Solange ich die Götter verneine,
entsteht mir kein Schaden aus ihren Geschichten. 
Der Tanz dort macht mich glücklich. 
Solange ich mich zu Gott bekenne,
kann ich die Show genießen. 
Ich schade der Wahrheit nicht. 
Ich bin getauft genauso wie du.“[2]

Trotz der Einwände von Klerikern gegen den Besuch von Theateraufführungen muss dieser flexible Ansatz weit verbreitet gewesen sein. Unter Personen hohen Bildungsgrades drehte sich die Debatte über die Bedeutung des heidnischen Erbes aber weniger um Theateraufführungen, die als eher populäre Unterhaltung galten, als vielmehr um Texte und Literatur. Heidnische Texte auf Griechisch – Klassiker wie Homer, Platon oder Demosthenes – waren letztendlich Bestandteil des Schul-Curriculums junger Leute aus gutem Hause, und eine umfangreiche Ausbildung galt unter den byzantinischen Eliten als eines der begehrtesten Identitätsmerkmale. Eine der Persönlichkeiten, die am meisten dazu beitrugen, eine durchdachte Rechtfertigung des Gebrauchs der älteren paganen Literatur seitens der Christ:innen zu formulieren, war Basilius von Caesarea (330-379). Unter dem Titel „Mahnwort an die Jugend“ verfasste er ein Traktat, in welchem er die Beibehaltung heidnischer Texte im Schul-Curriculum von jungen Christ:innen verteidigte, allerdings nur als Vorbereitung für das Erlernen einer höheren Wahrheit und unter Ausschluss von – aus Basilius’ Perspektive – unmoralischen Texten.

Ein gefälschter Dialog 

Wie konnte man dabei Leute am besten davon überzeugen, dass die pagane griechische Kultur und das Christentum sehr wohl miteinander kompatibel seien? Eine mögliche Lösung für dieses Problem fand die leider unbekannte Person, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts folgende Textfälschung herstellte: den Briefwechsel zwischen dem oben genannten Basilius, einem Christen, und dem Rhetoriklehrer Libanius, einem Heiden. Libanius (314-393) war einer der erfolgsreichsten Rhetoriklehrer seiner Zeit, und seine Werke wurden auch in den Jahren nach seinem Tod sehr geschätzt. Basilius war wahrscheinlich selbst für kurze Zeit Schüler des Libanius, wie übrigens viele andere Christen auch. Der Briefwechsel liegt als Sammlung von 26 (ursprünglich vielleicht nur 21) Briefen vor, in welchen die beiden Männer miteinander kommunizieren. Die Briefe müssen sich für jemanden aus dem 5. Jahrhundert wie ein meist entspannter und gelegentlich amüsanter Dialog zwischen zwei sehr berühmten Persönlichkeiten aus ihrer jüngsten Vergangenheit gelesen haben, fast wie ein Briefroman.

Abb. 2: Porträt des Libanius, wie ein französischer Autor des 16. Jahrhunderts sich ihn vorstellte (Quelle: wikimedia commons)

Ziel des uns unbekannten Verfassers war es offensichtlich zu zeigen, wie sehr der eine historische Autor die Gelehrtheit des anderen zu schätzen wusste, aber gleichzeitig auch, dass Libanius – der heidnische Star der frühbyzantinischen Rhetorik – sowohl die moralischen als auch die literarischen Qualitäten des Christen Basilius anerkannte und die Schriften des Kirchenvaters sogar für besser als seine eigenen hielt. In einem Brief des – vermeintlichen – Libanius steht:

Als die Überbringer des Briefes ihn mir überreichten, las ich ihn schweigend durch und sagte dann lächelnd: ‚Ich bin besiegt.‘ Man fragte mich: ‚Was für ein Sieg ist das? Und wieso tut es dir darum nicht leid?‘ Und ich antwortete: ‚In der Schönheit der Briefe bin ich besiegt. Basilius hat gewonnen, aber er ist mein Freund, und ich freue mich darüber.‘“[3]

Basilius lenkt daraufhin vom Lob, das er von Libanius erhält, ab und erwidert das Kompliment, wie es sich für einen asketisch gesinnten, bescheidenen Bischof gehörte. Der vermeintliche Libanius besteht aber immer wieder von neuem auf Basilius’ Überlegenheit. Andere sich wiederholende Themen sind Empfehlungsschreiben für junge Studenten, die Basilius an die Schule des Libanius vermittelt, und Kommentare zum Werk des jeweils anderen. Basilius bittet Libanius zum Beispiel, ihm seine letzte Rede zu schicken, während Libanius Basilius um die Zusendung seiner letzten Predigt ersucht. Der Wechsel ist darüber hinaus mit wohlgesitteten Witzen durchsetzt. So schreibt etwa Basilius im Winter aus dem kalten Kappadokien in Kleinasien:

Ich habe diesen Brief geschrieben, während ich in Schneedecken eingehüllt war. Wenn du ihn erhältst und mit deiner Hand berührst, wirst du bemerken, dass er selbst kalt ist und das Bild hervorruft, der Absender ginge in seiner Höhle herum und könne seine Nase nicht hinausstecken!“[4]

Dieser Briefwechsel war in den byzantinischen Jahrhunderten sehr populärer Lesestoff. Einzelne Briefe oder das gesamte Corpus sind in mehr als 100 Handschriften erhalten, und wir wissen von mindestens einem Fall, wo diese gefälschten Briefe auch tatsächlich den vermeintlichen Zweck ihres Verfassers erfüllten: Als Student war der zukünftige Patriarch von Antiochien, Severus (465-538) – wie alle Jungen aus gutem Hause – begeistert von rhetorischen Werken, insbesondere denen des Libanius. Nicht zuletzt dank dieses Briefwechsels begann Severus, auch die Werke des Basilius zu lesen, bis Severus allmählich zu einem der führenden Theologen seiner Zeit wurde.[5]

Abb. 3: Eine Handschrift vom Ende des 10. oder dem Anfang des 11. Jahrhunderts, die hauptsächlich Werke des Basilius von Caesarea, inklusive des hier behandelten, enthält und heute in der Bodleian Library in Oxford aufbewahrt wird (Quelle: Bodleian Libraries, University of Oxford, MS. Barocci 228, f. 126r) 

Fiktive Briefe und fiktive Erzählungen

Aus dem gefälschten Briefwechsel zwischen dem Heiden Libanius und dem Christen Basilius geht implizit hervor, dass Basilius sowohl literarisch als auch moralisch für dem Libanius überlegen gehalten wurde. Gleichzeitig ergibt sich aus den Themen des Briefwechsels das Bild, dass es für Christ:innen als völlig legitim galt, das Werk eines heidnischen Autors wie Libanius mit gutem Gewissen zu genießen. Die Briefsammlung wurde schon in der Renaissance gelegentlich verdächtigt, nicht authentisch zu sein, und gilt nach einer langen Debatte in der modernen Forschung heute in ihrer Gesamtheit als gefälscht. Trotzdem sind Fälschungen oft besonders aussagekräftige kulturwissenschaftliche Quellen, wenn Historiker:innen die Absichten der Fälscher:innen genauer unter die Lupe nehmen. Ironischerweise sind wir mit dem Beispiel des fiktiven Briefwechsels in der Lage, das lange vorherrschende Bild eines angeblich dauerhaften Konfliktes zwischen Heid:innen und Christ:innen in der frühbyzantinischen Zeit als eine eigene Art von Fiktion nachzuweisen.

Lesetipps:

P. Brown, Welten im Aufbruch. Die Zeit der Spätantike. Von Mark Aurel bis Mohammed. Bergisch Gladbach: Lübbe 1980.

H.-G. Nesselrath, ‘Libanio e Basilio di Cesarea: un dialogo interreligioso?’, Adamantius 16 (2010), 338-352.

L. Van Hoof, ‘Falsification as a Protreptic to Truth. The Force of the Forged Epistolary Exchange between Basil and Libanius’, in P. Gemeinhardt, L. Van Hoof, P. Van Nuffelen (Hrsg.), Education and Religion in Late Antique Christianity. Reflections, Social Contexts and Genres. London: Routledge 2016, 116-130.

Autor:

Foto von Cosimo Paravano

Cosimo Paravano ist Prae-Doc Assistent für Byzantinistik am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien und Fellow der Doctoral School of Historical and Cultural Studies. Er forscht zur Kulturgeschichte von Byzanz, vor allem zur frühbyzantinischen Rhetorik, und interessiert sich allgemein für den östlichen Mittelmeerraum in der Spätantike und im Mittelalter.


[1] Edward Gibbon, History of the Decline and Fall of the Roman Empire. 6 Bände. 1776-1788. Das gesamte Werk – übrigens ein Meisterwerk der englischsprachigen Geschichtsschreibung! – ist im Gutenberg Projekt abrufbar.

[2] Eigene Übersetzung aus dem Syrischen. Zur englischen Edition des Textes: C. Moss, “Jacob of Serugh’s Homilies on the Spectacles of the Theatre”, Le Muséon 48 (1935), 87-112, 100 (syrisch) und 108-109.

[3] Libanius und Basilius, Korrespondenz, Brief 4; eigene Übersetzung aus dem Griechischen.

[4] Libanius und Basilius, Korrespondenz, Brief 16.

[5] Zacharias von Melitene, Leben des Severus 13.