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Das finstere Mittelalter: Risiken und Nebenwirkungen für die Geisteswissenschaften

Sophie Morawitz

15.4.2023

Es gilt als martialische Zeit ungebildeter, abergläubischer Rüpel, die im Dreck stinkender Siedlungen ihr Leben kläglich vor sich hinfristen: das Mittelalter. Dass es sich dabei aber keineswegs um ein wissenschaftlich haltbares Abbild einer historischen Realität handelt, sondern um eine überzeichnete Klischeevorstellung à la Hollywood, ist vielen nicht bewusst.

Das Klischee und seine satirische Grundlage: Monty Python and the Holy Grail

Die wohl berühmteste Szene aus dem bekannten Film Monty Python and the Holy Grail (1975) beginnt mit einer Halbtotale von zwei Bauern, die mit Holzstöcken auf Erdklumpen einschlagen. Währenddessen erscheinen am Horizont zwei Männer in vermeintlich mittelalterlichen Kostümen: König Artus, der in Wappenrock und mit Krone vorangaloppiert, und sein im Eilschritt nachfolgender Knappe, der Hufgetrappel-Laute durch das Aneinanderschlagen von Kokosnusshälften imitiert. Die nächste Einstellung zeigt die beiden von hinten, wobei durch die veränderte Kameraperspektive ein Bauer sichtbar wird, der mit einem leeren Karren über eine unberührte Wiesenlandschaft auf eine isoliert stehende Steinburg monumentalen Ausmaßes zusteuert.

In diesem 20-sekündigen Auftakt zum eigentlichen Dialog bediente sich die britische Komikergruppe aller gängigen Klischees – fügte aber auch ein entscheidendes hinzu: den im Morast wühlenden Bauern. Während die Technicolor-Filme der Nachkriegszeit das Mittelalter noch als goldenes Zeitalter voller Pracht und Ruhm darstellten, zog es deren Persiflage – denn nichts anderes wollte die Verfilmung sein – wortwörtlich durch den Dreck. So setzten Terry Gilliam und Terry Jones Schlamm und Schmutz erstmals und durchaus bewusst im Mittelalterfilm ein, um den im Dialog thematisierten Kontrast zwischen Mittelalter (Artus-Sage) und Moderne (politische Phrasendrescherei der 1970er Jahre) auch visuell zu pointieren und auf diese Weise Komik zu erzeugen. Das war insofern wichtig, als es dem Duo dazu diente, Fiktion und Geschichte – zwei Momente, die in den amerikanischen Artusverfilmungen der 1930er bis 50er Jahre miteinander verwoben worden waren (dazu später mehr) – als unvereinbare Oppositionen herauszustreichen. Letztendlich war es also der Versuch einer ironischen Brechung der politischen Vereinnahmung des Artusstoffes durch Hollywood, der die beiden Regisseure – und wohl insbesondere den Historiker Terry Jones – dazu brachte, die Grundlage für eine ganz andere Blüte der verfälschten Mittelalterdarstellung zu schaffen. 

Abb. 1: Der amerikanische Geschichtsprofessor Matt Ponesse weiß, dass das Mittelalterbild Hollywoods weit von jenem abweicht, das uns die historischen Quellen vermitteln. Dabei wird insbesondere die Erkenntnis der Forschung, dass zahlreiche Errungenschaften der Land-, Forst- und Marktwirtschaft aus dem Mittelalter stammen, gerne ignoriert: Dazu zählen u.a. der schwere Pflug und die Mehrfelderwirtschaft, die eine deutliche Produktionssteigerung und Produktvielfalt (u. a. auch eine große Bandbreite an Stoffen in meist kräftigen Farbvarianten) mit sich brachten, verbunden mit einem Bevölkerungswachstum, einer Vielzahl an Gesetzen und Regulierungen sowie einer gesamtwirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung. Wärmere Temperaturen begünstigten diese Entwicklung zusätzlich (Quelle: Instagram, @medievalistmatt)

Der Realitäts-Boom

Die bewusste Verfälschung des Mittelalters zu einer finsteren und schmutzigen Epoche mag zum damaligen Zeitpunkt zwar neu gewesen sein, nicht aber der Hang zum Dreck per se. Tatsächlich hatte sich bereits Akira Kurasawa im Film Die sieben Samurai (1954) einer düster-dreckigen Stimmung bedient, um ein realistisches Bild einer fremden Zeit und Kultur erschaffen zu können. Ein Stilmittel, das formal wie inhaltlich auch im westlichen Kino richtungsweisend wurde: Ausgehend von John Sturges Remake Die Glorreichen Sieben (1960) prägte es sämtliche Actionfilme der amerikanisch-europäischen Filmlandschaft und schuf über diese zudem die Voraussetzungen für Monty Pythons legendäre Mock-Epic. 

Für die nachhaltige Etablierung des sogenannten medieval filter im Medium Film war allerdings eine ganz andere Ikone von großer Bedeutung: Die Rede ist von der Verfilmung von Umberto Ecos Bestseller Der Name der Rose (1986), welche mithilfe schauriger Ereignisse einen regelrechten Hype auslöste, der in einer ganzen Reihe neuartiger – und vom Artus-Stoff losgelöster – Mittelalter-Blockbuster gipfelte. Abseits des Western-Genres bedienten sich nun auch Kevin Reynolds (Robin Hood, 1991), Mel Gibson (Braveheart, 1995) und Michael Crichton (The 13th Warrior, 1999) düsterer Settings und konfliktgeladener Handlungen und dekonstruierten so das Mittelalter nach altbewährtem Muster. Selbst neuere Produktionen wie King Arthur (2004) suggerieren durch ihre Darstellung einer streitsüchtigen und von extremen Standesunterschieden geprägten Gesellschaft eine Nähe zur europäisch-mittelalterlichen Realität, mixen jedoch Helden, Zeitalter und historische Zustände genauso unverfroren wie ihre Vorläufer zu einem Mittelalter-Cocktail zusammen, der ohne wissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage funktioniert. Mehr noch: Gerade letztgenannter Film darf im Kontext eines Themas wie der Bandbreite von Fake und Irrtum keineswegs unterschätzt werden. Indem der Regisseur Antoine Fuqua aktuelle Forschungsthesen rund um eine mögliche sarmatische Herkunft der Artus-Legende (sog. Sarmaten-Connection[1]) bewusst zum Thema machte, gelang ihm zwar eine bisher so noch nicht dagewesene Vermarktung eines 08/15-Hollywood-Blockbusters als authentische Wiedergabe eines historischen Quellenbestandes. Spätestens wenn der titelgebende Held mit der rund 250 Jahre vor den geschilderten Ereignissen fassbaren Figur des römischen Offiziers Lucius Artorius Castus gleichgesetzt wird, kippt jedoch der vermeintliche Fakt und wird zur kontrafaktischen Fiktion. Allerdings nur für Fachkundige; das massebildende Laienpublikum bleibt weiterhin im Glauben, eine Form von niederschwelliger Geschichtsvermittlung konsumiert zu haben.  

Dieses – zugegebenermaßen – extreme Beispiel verdeutlicht, wie schnell das Interesse Hollywoods am Mittelalter eine durchaus problematische Dimension annehmen kann: Zwar ist die Authentizität des Mittelalterfilms immer schon eine eingeklammerte, doch hindert dies das von der Filmindustrie imaginierte Bild vom Mittelalter keineswegs daran, sich mit jeder Produktion ein Stückchen weiter in das kulturelle Gedächtnis der Gegenwart einzuschreiben und im Zuge dessen auch auf andere zeitgenössische Informationsmedien abzufärben. Insbesondere neuere Dokumentationen und Schulbücher vermarkten zunehmend ein dunkles Mittelalter als wahres Gesicht der Epoche und bergen somit das Risiko, dass wir – von 3D-Effekten und actionreichen Spielszenen abgelenkt – auf den Verlust unserer historischen Urteilsfähigkeit zusteuern. 

Abb. 2Medieval Filter? Dieser Comicstrip des niederländischen Zeichners Niels Vergouwen bringt nicht nur auf den Punkt, was unter der Begrifflichkeit zu verstehen ist, sondern karikiert zudem das Equipment, das bei keinem Mittelalterfilm fehlen darf: zwei, drei Fackeln und ein Kübel voller Dreck (Quelle: Instagram, @couldbeworsecomic)

Das Mittelalter als Teil der (eigenen) Identität

Bereits im früheren 20. Jahrhundert degradierten Filmemacher wie Hal Foster und Richard Thorpe das Mittelalter in Spielfilmen wie Prince Valiant (1937) und Knights of the Round Table (1953) zur politischen Kulisse, um zeitgenössisch-amerikanische Wertvorstellungen wie Moral und Patriotismus transportieren zu können – und befeuerten so die Idee des Mittelalters als Vorgeschichte der eigenen Gegenwart. Und nicht anders als heute war es auch schon zur Zeit der Goldenen Ära Hollywoods das Medium selbst, das die Grenzen zwischen Fiktion und Geschichte aufsprengte: So machte die Wiedergabe der Lebenswelt einer historischen Figur durch ein aus Zeit und Bewegung konstruiertes Medium das Frühere (die mittelalterliche Vergangenheit) im Gegenwärtigen (die zeitgenössische US-amerikanische Gesellschaft) in einem Ausmaß erfahrbar, das es dem Publikum nahezu unmöglich machte, zwischen Vergangenheitsnostalgie und Zukunftsorientierung zu unterscheiden. Dementsprechend trägt der gebrochene, gegen das Böse kämpfende Held seit jeher dazu bei, das Abgrenzungspotenzial des finsteren Mittelalters zu durchbrechen und einen Sog zu kreieren, dem sich viele nicht entziehen können. Vor diesem Hintergrund werden die Protagonist:innen des Mobs, der am 6. Januar 2021 das US-Kapitol stürmte, zu Abziehbildern von Mel Gibsons William Wallace (1995) oder – noch aktueller – von Ridley Scotts Filmfigur Marguerite de Carrouge. Als „Nebenwirkung“ der hier umrissenen Phänomene wurde die letztgenannte historische Figur in The Last Duel (2021) immerhin ebenso publikumswirksam auf die Rolle jener Einzelnen zugeschnitten, die sich gegen alle (ja: alle!) stellt.

Abb. 3: „Patriotismus, Moral und Realität“: Eine Zauberformel, derer man sich auch beim Werbeslogan für The Last Duel bediente und im dazugehörigen Trailer in „One Woman Defied a Nation“ kulminieren ließ (Quelle: 20thcenturystudios.com, The Last Duel Image Gallery, Image 5)

Fakten gegen Falschinformationen

Zur fahrlässigen Vermischung von Fakt und Fiktion gesellt sich also ab und an eine ideologische Vereinnahmung des Mittelalters, der es entgegenzuwirken gilt. Aber wie kommt man als Forscher:in gegen die fantastischen Bilder Hollywoods an? Um es mit den Worten des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zu formulieren: indem man sich am Dialog mit der Öffentlichkeit beteiligt und stets darum bemüht ist, dass die eigene, wissenschaftliche Stimme auch gehört wird. Auch wenn es wie ein Kampf gegen Windmühlen erscheint, ist die ständige Konfrontation mit fundierten Forschungserkenntnissen die einzige Möglichkeit, um der permanenten Selbstreproduktion des hollywoodesken Mittelalterbildes und den damit einhergehenden Risiken und Nebenwirkungen entgegenzuwirken.

Lese- und Schautipps:

Christian Kiening / Heinrich Adolf (Hg.), Mittelalter im Film (Berlin 2006). 

Amy S. Kaufman / Paul B. Sturtevant, The Devil’s Historians: How Modern Extremists Abuse the Medieval Past (Toronto 2020).

Jürgen Wolf, Auf der Suche nach König Artus. Mythos und Wahrheit (Darmstadt 2009).

„Geschichtsfenster“-Podcast von Andrej Pfeiffer-Perkuhn zum Thema Mittelalter in den Medien: https://www.youtube.com/watch?v=8Ict7Xbb09E

Redaktionsvideos zu den Trailern von The Last Duelhttps://www.youtube.com/watch?v=tI3jHbBIt1A und Medieval: https://youtu.be/LqKAXWwTQKs

Autorin:

Foto von Sophie Morawitz

Sophie Morawitz ist ÖAW DOC-Stipendiatin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien und forscht zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Architektur- und Mediengeschichte des mitteleuropäischen Raumes.


[1] C. Scott Littleton / Ann C. Thomas, The Sarmatian Connection: New Light on the Origin of the Arthurian and Holy Grail Legends, in: The Journal of American Folklore, Bd. 91, Nr. 359 (1978), S. 513-527.