• Blogbeitrag

Das verlorene Vaterland? Politisierung und Missdeutung der Vereinigung Italiens

Maria Stella Chiaruttini

15.3.2023

Die Schaffung eines italienischen Nationalstaats im 19. Jahrhundert habe die Italiener:innen nicht verbunden, sondern gespalten. Das behaupten zumindest geschichtsrevisionistische Bewegungen und Denkkreise. Hat uns die offizielle Historiographie bisher die „wahre“ Geschichte tatsächlich verschwiegen?

Eine grausame Geschichte?

Die folgenden Aussagen werden Sie zwar nie in einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit finden, sehr wohl aber in erfolgreichen, von manchen Journalist:innen oder selbsternannten „heterodoxen Expert:innen“ verfassten Geschichten, die zahlreich in Buchläden und noch mehr online zu finden sind: Die italienische Vereinigung zum Königreich Italien im Jahr 1861 (der Höhepunkt des Risorgimento) sei nichts anderes gewesen als ein mithilfe der französischen und britischen Freimaurerei geführter Kolonialkrieg und ein von Piemontesen begangener Genozid an Süditaliener:innen. Das Königreich Sardinien (Piemont-Sardinien) sei vor dem Bankrott gestanden, als es die italienische Halbinsel eroberte. Der Piemontesische Staat sei schwer verschuldet gewesen, und seine Nationalbank, die Vorgängerin der Banca d’Italia, habe kein Geld mehr gehabt: Der einzige Ausweg für das norditalienische Königreich sei es daher gewesen, die überflüssigen Goldreserven der Nationalbank des Königreichs beider Sizilien in die Hände zu bekommen. Süditalien sei erst seit der Vereinigung ärmer als Norditalien, weil die damals fortschrittliche Wirtschaft des Südens unverschämt und gewalttätig geplündert wurde, ihre Bürger:innen getötet oder verfolgt wurden und in weiterer Folge verarmten. Damit nicht genug, würde italienischen Kindern seither in der Schule vermittelt, dass die Piemontesen nur versucht hätten, den Süden aus der Tyrannei der Bourbonen zu befreien. Für die Tatsache, dass der Süden ärmer als der Norden geblieben ist, trügen die weniger unternehmerischen, weniger gebildeten und weniger fleißigen Süditaliener:innen selbst die Verantwortung. 

Wie ist es möglich, dass solche Thesen kursieren? Verschweigt uns das offizielle staatliche Bildungswesen die schändliche Wahrheit, nur weil diese jegliche Legitimation des italienischen Nationalstaats zerstören würde?

Abb. 1: Garibaldi auf der Piazza Pretoria in Palermo im Jahr 1860: Seine traditionelle Darstellung als Befreier Süditaliens wird immer häufiger bestritten. (Quelle: wikimedia commons)

Gefühle und Buchhandlungen

Entstehung und Verbreitung solcher Thesen hängen immer von der Geschichte und Gegenwart eines Landes ab. Psychologisch betrachtet, haben Verschwörungstheorien den Vorteil, (scheinbar) einfache, klare, allumfassende, hoch emotionale Antworten zu bieten. Sie sind dadurch gewiss zugänglicher als wissenschaftliche Arbeiten, die facettenreiche, nicht-einseitige Erklärungen hervorbringen. Pseudo-geschichtswissenschaftliche Werke können uns berühren, empören und gleichzeitig antreiben, uns mutig für Wahrheit und Gerechtigkeit einzusetzen. Sie sind oft spannend geschrieben, sie wecken unsere Neugier und schmeicheln uns auch, weil sie vermeintliche Wahrheiten enthüllen, die angeblich vielen Expert:innen unbekannt sind. Es sind Werke – manchmal sogar Bestseller –, die man in allen Buchhandlungen finden kann.

Während seriöse Historiker:innen der menschlichen Psychologie wenig entgegensetzen können, leidet die Vermittlung ihrer Ergebnisse auch unter institutionellen Missständen: Ihre Schriften sind zwar auch im Buchhandel zu finden, aber häufig nur, wenn man Zugang zu einer Universitätsbibliothek hat. Die meisten erstklassigen wissenschaftlichen Zeitschriften sind außerdem oft nur teilweise open access; die wissenschaftlichen Verlage publizieren Werke, die teuer sind und nicht in den üblichen Buchhandlungen aufliegen. Was in dieser Hinsicht noch „schlimmer“ ist: Die zunehmende und großteils wünschenswerte Verwendung der englischen Sprache im akademischen Raum macht Forschungsergebnisse für ein breiteres interessiertes Publikum manchmal weniger statt besser zugänglich. Dies sind allgemeine Probleme von wissenschaftlichen Veröffentlichungen im Gegensatz zu unseriöser Literatur, die selbstverständlich nicht nur Italien plagen, obwohl das italienische Nord-Süd-Gefälle, das auch hinsichtlich des allgemeinen Bildungsniveaus besteht, sie noch weiter verstärkt. 

Die Politisierung der Geschichte

Es gibt aber auch andere, landesspezifische, soziokulturelle Erklärungen für den Erfolg des populistischen Geschichtsrevisionismus in Italien. Die andauernden wirtschaftlichen Schwierigkeiten Italiens in den letzten Jahrzehnten, die von einer Verstärkung des Nord-Süd-Gefälles geprägt waren, und die vieldiskutierte europäische Integration, die oft als Kampf zwischen „nördlichen“ und „südlichen“ Interessen dargestellt wird, haben die Wahrnehmung regionaler Spannungen verschärft. Dazu trug in den 1990er Jahren auch der Aufstieg der Lega Nord bei, einer rechtskonservativen Partei, die Föderalismus statt Zentralismus und sogar die Unabhängigkeit Norditaliens forderte. Das Vertrauen auf den patriotischen Mythos der Vereinigung begann zu schwinden, was das Interesse an Schriftwerken, die ihn weiter untergruben und die Vereinigung als historischen Fehler einer Elite schilderten, begünstigte.

Zugleich weckte die rassistische Rhetorik der Lega Nord gegen Süditaliener:innen dort die Sehnsucht nach dem „kleinen Vaterland“ der beiden Sizilien und das Verlangen zu beweisen, dass der Süden traditionell ärmer war, weil er nicht als gleichwertiger Bestandteil Italiens, sondern eher als eine auszubeutende Kolonie behandelt wurde. Politisch vereinigte dieser revisionistische Diskurs konservative Katholik:innen, die die Schaffung Italiens wegen des Antiklerikalismus der Nationalbewegung schon immer als verdächtig wahrgenommen hatten, Linkspopulist:innen, denen ein kolonialistisches Narrativ vertraut war, Europaskeptiker:innen, die Angst vor einer Wiederholung der Geschichte hatten, und natürlich Politiker:innen, die die Verantwortung für gegenwärtiges Versagen lieber auf die Vergangenheit abwälzten. 

Obwohl dieser revisionistische Diskurs stets einen deutlich nationalen Charakter behalten hat, spiegelt er gleichzeitig transnationale und sehr unterschiedliche Tendenzen wider: etwa die zunehmende Aufmerksamkeit für die Geschichte des Kolonialismus aus der Perspektive der Kolonien statt jener der Kolonialmächte und für die Geschichte der Minderheiten, die Wahrnehmung von tief verwurzelten kulturellen Stereotypen und von sozialer Ungerechtigkeit als lähmendes historisches Erbe. Hinzu kommen auch das Misstrauen gegen Integrationsprozesse und internationale Eliten, die gleichzeitige Ablehnung von Nationalismus und Globalisierung sowie die Wiederentdeckung historischer Regionen als Ursprung neuerer Identitäten und politischer Legitimation. Zwar international weniger bekannt, hat der italienische Revisionismus viel gemein mit den Versuchen der Neo-Konföderierten, die offizielle Historiographie in den Vereinigten Staaten umzuschreiben. Mehrdeutig ist auch die Beziehung dieses und ähnlicher Diskurse zur Demokratisierung: Einerseits herrscht eine Sehnsucht nach illiberalen Regierungen, andererseits wird den liberalen Regierungen vorgeworfen, undemokratisch und diktatorisch gehandelt zu haben.

Schlecht gehütete Geheimnisse

Obwohl vielfältig von der Gegenwart beeinflusst, erfindet der populistische Revisionismus in Italien nichts Neues. Wenngleich er die Debatten teilweise radikalisiert oder sogar karikiert, beruft er sich nämlich auf solche, die zum Teil schon vor der Vereinigung begannen. Viele Menschen wollten damals eigentlich kein vereinigtes Italien, keine riesigen militärischen Ausgaben, ansteigende Steuern und Staatsverschuldung, um die Nationalbewegung zu finanzieren, keine Auseinandersetzung mit Österreich und der katholischen Kirche, kein Infragestellen der lokalen Wirtschafts- und Machtbeziehungen zugunsten eines Binnenmarktes und eines vereinigten Staates. Des Weiteren gab es viele, die sich all dies zwar wünschten, aber die tatsächliche Vereinigung als enttäuschend, zu wenig demokratisch oder sogar ungerecht gegenüber regionalen Interessen wahrnahmen. Dies war vor allem in Süditalien der Fall, wo der Konservatismus, aber auch die demokratische Seite der Nationalbewegung besonders stark waren und wo die italienische Regierung den bewaffneten Widerstand blutig niederschlug. Niedergeschlagen oder politisch an den Rand gedrängt, äußerten sich diese Unzufriedenen in Italien sowie im Ausland weiter gegen die Vereinigung oder einfach gegen die Partei, die zu dieser Zeit an der Macht war, während die schwierige politische, finanzielle und soziale Lage Italiens – und insbesondere Süditaliens – viele Intellektuelle glauben machte, die Vereinigung sei in der Tat gescheitert.

Abb. 2: Die Vereinigung Italiens wurde von Anfang an in Pressekampagnen im In- und Ausland hitzig diskutiert. Hier ein Propaganda-Artikel über die angebliche Bestechlichkeit der Presse seitens der Bourbonischen Diplomatie. (Quelle: Biblioteca Nazionale di Napoli, sezione Lucchesi Palli; Foto der Verfasserin; Veröffentlichung gewährt mit Genehmigung des Ministero per i Beni e le Attività Culturali e per il Turismo; jegliche unerlaubte Reproduktion ist untersagt)

All dies ist in der Historiographie gut bekannt, obwohl die Staatsrhetorik – wenig überraschend – das Risorgimento und die Entstehung des italienischen Staates immer in unterschiedlicher Weise gepriesen hat. Das Problem ist daher nicht, die politische Hagiographie des Risorgimento zu widerlegen und den Akzent auf seine Schattenseiten zu legen. Insbesondere die jüngste geschichtswissenschaftliche Literatur betont immer wieder die oft autoritären Vorgangsweisen der Nationalregierung, die Verbreitung von regionalen Stereotypen sowie die positiven Aspekte der von absolutistischen Regierungen eingeführten Reformen. Allerdings verschweigt sie auch nicht die vielen positiven Aspekte der Vereinigung oder die langfristigen Schwierigkeiten des Südens, die dem Risorgimento vorausgingen und die teilweise nicht wegen, sondern trotz der Vereinigung bestehen blieben.

Was hingegen problematisch ist, sind die Nichtanerkennung beziehungsweise Vereinfachung dieser Komplexität seitens des Revisionismus sowie der unbekümmerte Umgang mit Primär- und Sekundärquellen. Quote mining und cherry picking aus wissenschaftlicher Literatur, die dem breiten Publikum unbekannt – und manchmal unzugänglich – ist, sind eine übliche Praxis, außerdem die Vernachlässigung von Schriftwerken, die den Revisionismus ablehnen. Besonders erfolgreich ist der Revisionismus daher im Fall von Forschungslücken. Die Finanzgeschichte der italienischen Vereinigung beispielweise ist viel zu wenig erforscht und bekannt, sogar unter italienischen Wirtschaftshistoriker:innen. Kein Wunder, dass erfundene Zahlen und Ereignisse, deren Absurdität sogar Historiker:innen nicht unmittelbar ausmachen können, der Öffentlichkeit aufgetischt werden. Das wird insbesondere dann zum Problem, wenn sie explizit oder implizit an uralte antisemitische Vorurteile und Misstrauen gegen korrupte finanzielle Eliten anknüpfen.

Abb. 3: Es ist nicht alles Gold, was glänzt! Oder: die Notwendigkeit, historische Quellen über den Wohlstand des Königreichs beider Sizilien zu hinterfragen. Hier eine nach der Vereinigung verfasste apologetische Schrift zur Haushaltsdisziplin des ehemaligen Bourbonischen Staates. (Quelle: Archivio di Stato di Napoli, Archivio Borbone, 1680; Foto der Verfasserin; Veröffentlichung gewährt mit Genehmigung des Ministero per i Beni e le Attività Culturali e per il Turismo; jegliche unerlaubte Reproduktion ist untersagt)

Noch interessanter ist aber die unkritische Verwendung von Primärquellen, die mit einem klaren politischen Ziel produziert wurden. So werden parlamentarische Reden oder Pamphlete der einen Seite – aber nicht der anderen – als sachgerechte Darstellungen herangezogen, und die Motivation ihrer Autor:innen wird nicht hinterfragt. In dieser Hinsicht dient der populistische Revisionismus mehr als Resonanzboden von Streitigkeiten der Vergangenheit und weniger als Enthüller „schmutziger Geheimnisse“.

Doch selten ein Schaden ohne Nutzen! Der Revisionismus hat Historiker:innen bestärkt, sich vermehrt an der öffentlichen Debatte über die Entstehung des italienischen Nationalstaats zu beteiligen, und zwar in Form von Büchern und in digitalen Medien, die sich an ein breites Publikum richten. Was meines Erachtens noch fehlt, ist eine engere Zusammenarbeit zwischen einerseits Politik-, Kultur- und Sozialhistoriker:innen, die sich mit dem Risorgimento und dem Nord-Süd-Gefälle Italiens befassen, und andererseits Wirtschaftshistoriker:innen, ohne die der Zusammenhang von Wirtschaftswachstum, echter oder eingebildeter wirtschaftlicher und politischer Diskriminierung auf regionaler Ebene, politischen Rollenspielen sowie sozialen und regionalen Auseinandersetzungen, welche die Entwicklung des Königreichs Italien geprägt haben, nur teilweise erklärt werden kann.

Autorin:

Bild von Maria Stella Chiaruttini

Maria Stella Chiaruttini ist Universitätsassistentin am Institut für Wirtschaft- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Sie hat am European University Institute (Florenz) promoviert und an der Universität Zürich und der Universität Göttingen als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet. Sie war Visiting Fellow an der Universität Neapel Federico II und am Deutschen Historischen Institut Paris. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Finanzgeschichte Italiens im 19. Jahrhundert, die Geschichte des Nationalismus und die Verflechtungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Integrationsprozessen.

Lesetipps:

Maria Stella Chiaruttini, Woe to the Vanquished? State, ‘Foreign’ Banking and Financial Development in Southern Italy in the Nineteenth Century, in: Financial History Review, 27, 3 (2020), 340–360.

Maria Stella Chiaruttini, ‘Robbery Made the Kingdom of Italy, Misery Will Unmake It’. Fiscal Conflicts and Italian Nation-Building, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 62, 2 (2021), 369–403.

Maria Stella Chiaruttini, The Bank of Naples and the Struggle for Regional Power in Risorgimento Italy, in: Modern Italy, 26, 3 (2021), 313–330.