• Blogbeitrag

Der Schein der Fassade. Zur Rolle von Authentizität beim Erleben von materiellen Überresten

Florian-Jan Ostrowski

13.1.2023

Fakes und Irrtümer begegnen uns nicht nur als Aussagen, sondern auch in Form von materieller Kultur. Während Historiker:innen und Archäolog:innen die Gültigkeit materieller Überreste als Quellen für ihre Erzählungen über Vergangenheit überprüfen, sagt die Zuschreibung von Fakes und Irrtümern bei Dingen, Gebäuden und Rekonstruktionen vor allem etwas über unser Erleben von Authentizität aus. 

Fake & Irrtum und das Empfinden von Authentizität

Fakes und Irrtümer sind entscheidende Triebfedern wissenschaftlichen Arbeitens. Durch die Bestimmung von diesen verständigt man sich auf gefühlte Wahrheiten und zeitweilig Richtiges. Dabei werden sowohl Fakes – hier verstanden als (bewusste) Täuschungen und Imitationen – als auch Irrtümer – als im Nachhinein festgestellte (unbewusste) Falschaussagen – anhand von vorher festgelegten Kriterien gemacht. Ein wichtiger Faktor bei der Bestimmung von Fakes und Irrtümern ist das Gefühl der Authentizität, welches wiederum mit der eigenen Vorerfahrung und Vorstellungskraft in Verbindung steht. Was als Fake und Irrtum angesehen wird, hängt somit auch vom eigenen und gesellschaftlichen Erleben von Authentizität ab, welche weniger die wortwörtliche ursprüngliche Echtheit meint als vielmehr, ob etwas glaubwürdig oder nachvollziehbar ist.

Bei der Sinnstiftung von Vergangenheit in der Gegenwart spielen sowohl für Historiker:innen als auch für Archäolog:innen die Glaubwürdigkeit von Quellen sowie deren zeitliche und räumliche Standortbestimmung eine große Rolle. Dabei bestimmen der Kontext und die dazugehörige Fragestellung, ob eine historische Aussage oder materielle Überreste als authentisch eingestuft und als Quellen zugelassen werden. Was dem einen historisch nicht akkurat genug ist, sogar als Fälschung oder Irrtum erscheint, kann bei anderen ein wertvolles Zeugnis sein und eine tolle Vorstellung von einer bestimmten Zeit vermitteln. Fakes und Irrtümer können so auch bei materieller Kultur auftreten, was im Folgenden noch weiter ausgeführt werden soll. Dabei möchte ich hier nicht auf mehr oder weniger offensichtliche Fälschungen von Schriftdokumenten, Gemälden oder auf illegal kopierte Waren oder Retroprodukte eingehen, als vielmehr den Blick auf Fassaden von (rekonstruierten) Gebäuden, Gärten und archäologischen Parks lenken.

Eine moderne Replik oder Vergangenheit als Gefühl

Ein Grund für eine Reise kann sein, ein bestimmtes Bauwerk, ein Ensemble von Gebäuden oder eine spezifische Architektur einmal persönlich zu erleben, auf sich wirken zu lassen und so einer vergangenen Zeit nachzufühlen. Der Besuch der Altstadt von Warschau wäre ein solcher Reisegrund. Entlang der Krakauer Vorstadt (Krakowskie Przedmieście) und der Neue Welt-Straße (Nowy Świat), vorbei an schicken Stadtpalais, dem Präsidialpalast und dem Universitätsgelände nähert man sich dem Schlossplatz. In der Mitte steht die Säule mit König Sigismund III. Wasa. Gleich dahinter erhebt sich das trapezförmige Königsschloss mit seinem Turm. Nur wenige Schritte davon entfernt reihen sich bunte Backsteinhäuser mit Giebeldächern, zahlreiche Kirchen, dazwischen größere und kleinere Plätze, welche von kleinen Straßen und engen Gassen mit Kopfsteinpflaster durchquert werden, aneinander. Auf der einen Seite ist die Altstadt durch Überreste der Stadtmauer begrenzt, auf der anderen Seite durch einen kleinen Abhang zur Weichsel hin. 

Abb. 1: Alte Stadt mit neuer Altstadt. Das historische Zentrum von Warschau zeigt sich gepflegt und lebendig, ist allerdings ein Neubau aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Archiv des Autors, 2013. 

Wer durch die Altstadt von Warschau flaniert, kann durchaus das Gefühl haben, sich optisch in einer frühneuzeitlichen und barocken Residenzstadt mit intakter Bausubstanz und mittelalterlichen Straßenverläufen zu bewegen. Wer sich etwas genauer informiert oder sich alte Fotos ansieht, wird nicht glauben können, dass fast die gesamte Altstadt in den Jahren 1946-1953 wiederaufgebaut und sogar das Schloss selbst erst in den 1970er und 1980er Jahren neu errichtet wurde. Der Wiederaufbau erfolgte, nachdem Warschau zum Ende des 2. Weltkriegs verheerende Kriegsschäden zu verzeichnen hatte und zu über 80% zerstört war. 

Im Gegensatz zu anderen Städten, wo nur einzelne, ausgewählte Häuser bewahrt und wiederaufgebaut wurden, hat man sich in Warschau aus Wohnungsnot und als Zeichen der nationalen Wiedergeburt dazu entschlossen, die komplette Altstadt nach historischen Vorbildern und den Erinnerungen der Bewohner:innen weitestgehend zu rekonstruieren. Nach außen hin wirkt Warschau alt und gut erhalten; bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch die Illusion einer gewünschten Historizität. Die Altstadt von Warschau ist eine wunderschöne, allerdings erst 50-70 Jahre alte idealisierte Replik, welche um eine sozialistische Infrastruktur der Moderne ergänzt wurde.

Abb. 2: Auch die DDR kann Historismus. Im Berliner Nikolaiviertel verbindet sich historischer Rekurs aus Legitimierungsabsicht mit modernen Baustoffen, die für eine visionäre Zukunft stehen. Archiv des Autors, 2014.

Während im Warschau der Nachkriegszeit ein nationales Bedürfnis nach Wiederaufbau und Wohnraum bestand, war die Wiederherstellung des Berliner Nikolaiviertels 1980-1987 zur 750-Jahr-Feier des Bestehens von Berlin eine politische Inszenierung der Berliner Stadtverwaltung und der DDR-Führung. Einige wenige vorhandene Häuser wurden renoviert; ansonsten entstanden auf dem Areal der historisch ältesten Besiedlung von Berlin neue Plattenbauten mit teils historisierenden Fassaden, welche eine anschauliche Kulisse für die Feierlichkeiten in der Hauptstadt der DDR lieferten.

Auch wenn sich das Viertel heute um kulturelle Veranstaltungen bemüht und sich dort mittlerweile einige Museen befinden, haben die Berliner:innen diesen sterilen Fake immer noch nicht angenommen – dieser Fassadenschwindel passt eben nicht in das Berliner Selbstverständnis vom hippen Nachtleben, Hinterhöfen und Parkanlagen.

Imaginierte Natur als Erinnerungslandschaft

Nicht nur Gebäude bekommen aus unterschiedlichen Gründen historisierende Fassaden, welche einen älteren oder ursprünglichen Eindruck vermitteln sollen; auch Parks und Gärten werden nach einer entsprechenden Vorstellung (neu) angelegt oder wiederhergestellt, um ein authentisches Aussehen (zurück) zu bekommen. So geschehen zum Beispiel mit dem Park des Fürsten Pückler bei Bad Muskau an der deutsch-polnischen Grenze. Dieser große Landschaftsgarten im englischen Stil wurde nach Vorbereitungsarbeiten – unter anderem wurden mehrere Dörfer als störende Elemente umgesiedelt – seit 1815 angelegt und in den nachfolgenden 130 Jahren immer wieder erweitert und verändert. Künstlich angelegte Seen, Wege, Brücken, verschiedene Themenbereiche, Ruinen und ein Schloss im Renaissance-Stil sollten das romantisierende Natur- und Geschichtsverständnis ausdrücken. 

Abb. 3: Paläste für Pflanzen, Tiere und Menschen. Wie in zoologischen zeigt sich auch in botanischen Gärten – hier der Chinagarten in Zürich – die Verdinglichung der Vorstellungskraft. Archiv des Autors, 2015.

Nachdem der Park öfters die Besitzer wechselte, im 2. Weltkrieg als Schlachtfeld benutzt und danach auf zwei Staaten aufgeteilt wurde, Teile davon zum Gemüseanbau und als Siedlungsareal genutzt wurden, entschloss man sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, den Park im Sinne seines Begründers und zur Erinnerung an die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren und das zerstörte Schloss wiederaufzubauen. Während vieles neu gepflanzt und angelegt wurde, sollte der landschaftliche Charakter des Parks langfristig bewahrt werden.

Weitere Erinnerungslandschaften lassen sich bei Zoo-Anlagen feststellen. Neben den eigenen glücklichen Kindheitserinnerungen der Besucher:innen werden für viele Tiere künstliche Landschaften geschaffen, vom Aquarium bis zum Elefantengehege, welche die natürlichen Lebensbedingungen der Herkunftsgebiete simulieren sollen. Dazu bekommen viele Zoo-Gebäude ein historisch anmutendes Aussehen. Je nach Ursprungskontinent der Tiere kann man mitten in urbanen Gegenden ägyptische Tempel, asiatische Pagoden oder alpine Bergbauernhäuser entdecken. Auch wenn sich ein Nilpferd darüber freuen mag, dass sein Lebensbereich den Anschein eines Palastes wahrt, dient der Schein der Fassade vor allem dem Menschen. Gerade das Beispiel Zoo zeigt, dass wir gewillt sind, auch offensichtliche Fakes zu akzeptieren, wenn es dem Erlebnis dient, der Erinnerung förderlich ist oder sich dadurch die Authentizität steigern lässt.

Die archäologische Rekonstruktion zwischen Spekulation und Irrtum

Die Verdinglichung der Vorstellungskraft findet auch im wissenschaftlichen Bereich Anwendung. Archäolog:innen machen sich grafische Visualisierungen und plastische Rekonstruktionen zu Nutze, gerade weil vergangene Lebenswelten nie vollständig überliefert sind und einen kreativen Zugang zur Vergangenheit erfordern. Dass diese Rekonstruktionsversuche von Archäolog:innen zwar prägend sein können, sich aber im Endeffekt auch als Irrtum erweisen können, zeigt das Beispiel von Sir Arthur Evans und der Palastanlage von Knossos auf Kreta. 

Als Evans Anfang des 20. Jahrhunderts das Gelände des Palastes aufkaufte und eine Grabungsgenehmigung erhielt, fing er an, die minoische Kultur auszugraben. Dabei orientierte er sich bei der Deutung und Interpretation der Funde an literarischen Quellen und seiner eigenen Phantasie. Um seine Begeisterung und Vorstellung mit anderen zu teilen, ließ er auch Rekonstruktionen von Teilen der Palastanlage errichten. Besonders brisant ist, dass Evans nicht nur Rekonstruktionszeichnungen in Auftrag gab, sondern auch auf den Originalfundamenten des Palastes von Knossos Elemente aus Stein, Gips und Beton anfertigen und bunte Wandmalereien anbringen ließ. 

Abb. 4: Steine sprechen nicht von selbst. Archäolog:innen hoffen, über visuelle und plastische Rekonstruktionen ihre eigenen Deutungen lebendiger und überzeugender zu machen. Was gut gemeint war, kann sich später aber auch als Irrtum erweisen. Palastanlage in Knossos, Archiv des Autors, 2011.

Bereits in den 1920er Jahren kamen zu dieser Vorgehensweise von Evans zahlreiche kritische Stimmen auf; heutzutage gelten viele seiner Rekonstruktionsversuche als überholt, auch weil in den letzten 100 Jahren zahlreiche neue Erkenntnisse über den Palast und die Minoer zum Vorschein kamen. 

Während Rekonstruktionen notwendig sind, um wissenschaftliche Aussagen zu verdeutlichen, sind diese als Momentaufnahmen zu betrachten, welche sich auch als Irrtümer entpuppen können. Auch aufgrund von moderner Technik und Digitalisierung werden Rekonstruktionen immer seltener auf Originalfundamenten errichtet. Stattdessen werden originale Befunde als Ausgangsbasis genommen, und wissenschaftliche Irrtümer lassen sich mit wenigen Klicks schnell wieder korrigieren.

Falsche Fährten – neue Wege?

Fakes und Irrtümer gehören zum wissenschaftlichen Alltag dazu und sollten nicht nur negativ oder als gefährliches politisches Potenzial gesehen werden. Gerade das Bestreben, falsche Fährten aufzuspüren und neue Wege einzuschlagen, liegt im Interesse jeder wissenschaftlichen Disziplin. Auch beim Umgang mit materiellen Überresten können Fakes und Irrtümer ausgemacht werden, welche einem dynamischen Authentizitätsverständnis unterliegen. So lohnt es sich, hinter den Schein der Fassade zu blicken und auf die Rolle und Arbeitsweise von historisch arbeitenden Wissenschaftler:innen hinzuweisen, welche zur Bestimmung von Fakes und Irrtümern, auch aufgrund ihres Erlebens von Authentizität, wesentlich beitragen können.

Lesetipps:

Grażyna Ewa Herber, Wiederaufbau der Warschauer Altstadt nach dem 2. Weltkrieg. Im Spannungsfeld zwischen denkmalpflegerischen Prinzipien, politischer Indienstnahme und gesellschaftlichen Erwartungen. University of Bamberg Press: Bamberg, 2014; 

https://fis.uni-bamberg.de/bitstream/uniba/2947/1/SGuK17HerberopustextseA2.pdf (letzter Aufruf: 14.08.2022).

Cornelius Holtorf, Der Zoo als Ort der Erinnerung. In: Mitchell G. Ash (Hg.), Mensch, Tier und Zoo. Der Tiergarten Schönbrunn im internationalen Vergleich vom 18. Jahrhundert bis heute, Böhlau Verlag: Wien – Köln – Weimar, 2008, S. 345-361.

Michael Shanks, Christopher Tilley, Re-Constructing Archaeology. Theory and Practice. Routledge: London – New York, 1992.

Website des Muskauer Parks: https://www.muskauer-park.de/ (letzter Aufruf: 14.08.2022)

Autor:

Foto von Florian Ostrowski

Florian-Jan Ostrowski hat Geschichte sowie Urgeschichte und Historische Archäologie an der Universität Wien studiert. Er forscht zu materieller Kultur als Quellen und Medien, der Geschichte der Archäologie sowie zur Musik des Heavy Metal. Gegenwärtig ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Universität Wien und schreibt an seiner Dissertation zum Thema „Archäologie als Medienkultur“.