• Blogbeitrag

„Die Juden sind schuld!“ Corona und Antisemitismus

Gerhard Langer

Die Covid-Pandemie hat es massiv zutage gefördert: Alte Vorurteile und Falschbehauptungen gegenüber Jüdinnen und Juden werden nach wie vor beharrlich instrumentalisiert. Untersuchungen zeigen, dass sich die Verschwörungstheorien nicht nur im weit rechten Spektrum finden und sich häufig gegen Israel richten. Dieser Beitrag geht ihrer Geschichte und aktuellen medialen Verbreitung nach.

„Parasiten und Ratten!“

Am 18. April 2020 hält ein Autofahrer aus Protest gegen Corona-Maßnahmen in den USA ein Schild aus seinem Wagen, auf dem eine Ratte zu sehen ist, die aus antisemitischen Darstellungen bekannte Züge trägt und deutlich als religiöser Jude zu erkennen ist (Bart, Kippa). Auf dem Fell prangt ein großer Davidstern. Diese bösartige Karikatur vereint klassischen und modernen Antisemitismus und Israelhass, denn man darf vermuten, dass der Davidstern auf den jüdischen Staat verweist.

“The real plague”: Demonstrant am 18. April 2020 in Columbus, Ohio (© Laura Hancock, the Plain Dealer/cleveland.com)

Das antisemitische Motiv der Jüdinnen und Juden als Parasiten oder als Ratten ist alt. Eine besonders schaurige Form bekam es im nationalsozialistischen Propagandafilm „Der ewige Jude“ von Fritz Hippler. Darin heißt es: „Wo Ratten auch auftauchen, tragen sie Vernichtung ins Land, zerstören sie menschliche Güter und Nahrung. Auf diese Weise verbreiten sie Krankheiten, Pest, Lepra, Typhus, Cholera usw. usw. Sie sind hinterlistig, feige und grausam und treten meist in großen Scharen auf. Sie stellen von den Tieren das Element der heimtückischen und unterirdischen Zerstörung dar – nicht anders als die Juden unter den Menschen.“

„Die Juden sind krank und verbreiten Krankheiten!“

Dass Jüdinnen und Juden mit bösen Krankheiten gezeichnet sind und diese verbreiten, ist ein bereits in der Antike nicht selten behaupteter Umstand. Im fünften Buch seiner Historien trug etwa der römische Autor Tacitus Anfang des 2. Jahrhunderts alternative Fakten gegenüber der in der Bibel gängigen Erzählung, wonach Gott sein Volk aus dem Sklavenhaus Ägypten geleitet habe, vor. Er berief sich ganz modern auf die Meinung einer Mehrheit von Historikern seiner Zeit und behauptete, der Auszug aus Ägypten sei auf eine Seuche zurückzuführen, die von den jüdischen Menschen selbst verbreitet wurde. Deshalb hätte sich der Herrscher veranlasst gesehen, sie aus dem Land zu jagen. Bei dem von Mose angeführten Auszug wurde auch noch eine Reihe „schändlicher“ und „verkehrter“ Dinge eingeführt, etwa der Verzicht auf Schweinefleisch oder der Sabbat. Von „widersinnigen“ und „widerwärtigen“ Gebräuchen ist die Rede, wodurch sich besonders zeige, dass die jüdische Religion menschenverachtend sei.

Dass Jüdinnen und Juden besonders anfällig für Krankheiten seien, ist das eine seit der Antike in unzähligen Varianten wiederholte Motiv; dass sie an deren Verbreitung Schuld tragen, das andere, wohl noch schwerwiegendere. Dabei wird Krankheit gerne mit moralischer Verderbtheit in Verbindung gebracht. Darauf zurückgreifend bezeichnete der bedeutende Kirchenvater Ambrosius von Mailand im 4. Jahrhundert die Juden in einem Zug als „habgierig, aussätzig und lüstern“.

In seinem Buch Leib und Leben im Judentum“ listet der Medizinhistoriker Robert Jütte eine Reihe von Krankheiten auf, die man besonders mit Jüdinnen und Juden in Verbindung brachte. Neben Lepra und Pest sind Hämorrhoiden, die Krätze (Scabies), der Wichtelzopf (plica polonica, eine Hautkrankheit, die auch als „Judenzopf“ bekannt war), das Trachom (Augenkrankheit) sowie Diabetes genannt. 

Der Leibarzt des polnischen Königs, Leopold La Fontaine (1756-1812) glaubte herausgefunden zu haben, dass die Jüdinnen und Juden diese Krankheiten aufgrund ihrer Religion, ihres Lernens, des Fastens, Betens („Schreyen und Singen“) und Badens aufschnappten. Seine fragwürdigen Beobachtungen erschienen als „Medicinisch-chirurgische Abhandlungen verschiedenen Inhalts Polen betreffend“ 1792 in Breslau. Sein Fazit, kurzgefasst: Jüdische Religionsausübung macht krank. Mit dieser Ansicht war er freilich nicht allein. Eine ganze Reihe von Gelehrten in der Zeit der Aufklärung teilte diese Meinung und schrieb darüber.

So genannte Rassenanthropologen haben im 19. und 20. Jahrhundert sehr konsequent versucht, Krankheit mit Rasse zu verbinden und dabei etwa die Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und nicht zuletzt psychische Erkrankungen als vermeintlich typisch für das Judentum herauszustellen. Offen rassistische Zuweisungen sind zweifellos in den Jahren nach der Judenvernichtung seltener geworden, verschwunden sind sie jedoch nicht. 2011 konnte man in antisemitischen Blogs lesen, dass Jüdinnen und Juden den damals grassierenden Darmkeim EHEC, an dem in Deutschland 53 Menschen starben, eingeschleppt hätten. Die unhaltbaren Bezichtigungen kommen jedoch keineswegs nur aus der rechten Szene. In Bezug auf AIDS gab es nicht zuletzt aus der afro-amerikanischen Community Stimmen wie die von Steve Cokely, die eine Verbindung zwischen jüdischen Ärztinnen und Ärzten und der Verbreitung des Virus sahen. 

Hass gegen Juden als Hass gegen Israel

Heute tritt der alte Antisemitismus verstärkt im neuen Kleid des Israelhasses auf. Die Dämonisierung des Staates greift dabei Klischees und Denkbilder auf, die ihre lange Tradition im Judenhass hatten. Dazu nur ein Beispiel: In den Palästinensergebieten tauchten vor wenigen Jahren Vorwürfe auf, ein gewisser (unbekannter) Rabbi Schlomo Mlmr oder ein (in Wirklichkeit nicht existierender) „Rabbinerrat der Westbank-Siedlungen“ habe jüdischen Siedlern erlaubt, palästinisches Land zu rauben und die Brunnen zu vergiften. Hier werden alte Lügen gegenüber dem Judentum aufgegriffen. Auch in Bezug auf das Coronavirus wird Israel beschuldigt, die tödlichen Viren selbst in Umlauf gebracht zu haben.

Clipart „Rat Jew“ von Ami Sajal auf KindPNG.com – iFrame

„Juden profitieren an der Pandemie!“

Dass sich in Österreich während der Covid-Pandemie Verschwörungstheorien besonderer Beliebtheit erfreuen, ist inzwischen wohl ausreichend dokumentiert. Dass dabei ein auf alte Rhetorik und Bildsprache zurückgreifender Antisemitismus in Fahrt kam, beschäftigt keineswegs nur politische Beobachter, Kolumnisten und Blog-Schreiber, sondern auch die Israelitische Kultusgemeinde, die einen rasanten Anstieg an antisemitischen Vorfällen registriert.

Die im Auftrag der österreichischen Parlamentsdirektion erschienene Antisemitismusstudie zeigt, dass drei Prozent der Befragten glaubten, Jüdinnen und Juden hätten das Coronavirus erschaffen, um daraus finanziellen Profit zu schlagen. Dass Jüdinnen und Juden finanziell an Corona, vor allem aber an den Impfungen profitieren, versteht sich für einen wesentlich größeren Prozentsatz von selbst: 28 Prozent meinen, dass eine jüdische Finanzelite aus der Pandemie Vorteile zieht und ihren Einfluss vergrößert. Nicht überraschend fallen die bekannten Namen: Rotschild, Soros, Zuckerberg.

Constantin Lager betitelte seinen Blogbeitrag im Anschluss an eine in Wien vom Sir-Peter-Ustinov-Institut veranstaltete Tagung zu „Kontinuität und Aktualität des Antisemitismus“ im Standard vom 22. Juli 2021 recht eindringlich mit „vom Kuheuter bis zu Pfizer“, womit er auf die Unterstellung jüdischen Einflusses verwies. Letztlich steht die Kontrolle der Menschen im Raum, die – heimlich gechippt oder anders durch die Impfung manipuliert – erzeugt werden soll und bei der Jüdinnen und Juden die übliche (negative) Rolle spielen. Wer denkt da nicht an eine der größten antisemitischen Fälschungen, die „Protokolle der Weisen von Zion“? Auch darin war schon die Rede davon, dass die Völker der Welt von den Juden durch „Neid und Hass, durch Streit und Krieg, ja selbst durch Entbehrungen, Hunger und Verbreitung von Seuchen“ zermürbt werden sollten. 

Verharmlosung und Aneignung als Form des Antisemitismus

Zu fünfzehn Monaten bedingt wurden jene beiden Männer aus Wien und dem Burgenland verurteilt, die am 11. September 2021 mit einem aus Filz gebastelten Davidstern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ auf einer Corona-Demonstration erschienen waren. Die Verletzung des Verbotsgesetzes wegen gröblicher Verharmlosung des Nationalsozialismus greift hier, allerdings mit einer verhältnismäßig geringen Strafe. Nicht nur die Davidsterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“ tauchten in verschiedenen Formen (als Aufkleber, T-Shirt, Armbinde etc.) in vielen Ländern auf. In Berlin gingen Demonstranten mit Schildern auf die Straße, auf denen der Judenstern mit der Gesichtsmaske verglichen wurde. Ausgangsbeschränkungen wurden als „sozialer Holocaust“ bezeichnet. 

Schaufenster in Bruchsal: „Ungeimpfte sind hier unerwünscht“ (Quelle: swr.de – iFrame)

Judentum als „Seuche und Krebsgeschwür“

Der jordanische Islamgelehrte Ahmad Al-Shahrouri argumentierte in einem Interview im den Muslimbrüdern zugerechneten Yarmouk TV am 8. März 2020, dass es neben den physischen Pandemien auch die Seuchen gäbe, die Seele und Verstand (fiqr) angreifen und auf die besonders zu achten sei. Er meint dann: „Juden sind schlimmer als Coronavirus, AIDS, Cholera und jedes andere Übel der Welt.“

Die jordanische Schriftstellerin und Journalistin Kafa Al-Zou’bi stellte in den Al-Awal News am 9. April 2020 einen Vergleich zwischen der Pandemie und José Saramagos großem Roman „Die Stadt der Blinden“ her. Denn dieser Roman beschreibe nicht nur eine physische Pandemie, sondern vor allem einen vollständigen Verlust von Werten. Die Quelle des Problems sei der Kapitalismus, der barbarisch, gierig und nicht zuletzt jüdisch sei. Wörtlich spricht sie dann vom Judentum als „Krebsgeschwür, das die Menschheit seit den Anfängen ihrer zivilisierten Geschichte geschädigt hat“. Dieses Beispiel zeigt, wie sich hier Motive aus unterschiedlichen Quellen vermischen. Man erinnert sich an Johann Eisenmengers „Entdecktes Judentum“ oder den „Talmudjuden“ August Rohlings, an die Kapitalismuskritik eines Werner Sombart, genauso aber auch an sattsam bekannte linke Kapitalismuskritik, vorgetragen von einer modernen jordanischen Autorin, die sich auch kritisch mit ihrer arabischen Umwelt auseinandersetzt.

Eine schwierige Gemengelage und (k)ein Ausweg

In den genannten Beispielen wird deutlich, dass einfache ‚Schuldzuweisungen‘ im Hinblick auf Verschwörungstheorien und die Verbreitung antisemitischer Stereotypen längst nicht mehr greifen. Linke und rechte Schwurblerei, Kapitalismuskritik, Globalismuskritik und Israelhass vereinen sich nicht nur ideologisch, sondern, so hat man den Eindruck, gelegentlich auch in einer Person: Kafa Al-Zou’bi ist ein vielleicht sehr drastisches, aber kein Einzelbeispiel dafür, wie Antisemitismus in den verschiedensten Formen sich zu einer Weltsicht verbindet, in ihrer Aussage: „Ich denke auch, dass der Kapitalismus weniger barbarisch hätte sein können, wenn er nicht in den Quellen der jüdischen Philosophie verankert gewesen wäre und den Menschen nicht in einer Blindheit ertränkt hätte, die früher oder später zu seinem plötzlichen Untergang führen wird. Das wird geschehen, wenn [der Mensch] sein Augenlicht nicht wiedererlangt und die Epidemie der Illusionen ausrottet!“ Muss man hinter solch verklausulierten Aussagen nicht auch einen Aufruf zur Vernichtung des Judentums vermuten? In jedem Fall bildet gerade die Negativfolie des Judentums eine ganz bequeme Möglichkeit für Antisemitinnen und Antisemiten jeglicher Couleur, komplexe Zusammenhänge und globale Probleme mit der Zuweisung von Schuld an eine ohnehin ‚verdächtige‘ Gruppe zu lösen.

Verschärfend kommt hinzu, dass Judentum nicht nur das ganz Andere ist, sondern in Teilen vor allem von Jüdinnen und Juden erlebte Feindschaft – auf meist verharmlosende oder verzerrende Weise – auf sich selbst angewendet werden kann. Ich erinnere an die Relativierung der Schoah durch Palästinenserpräsident Abbas in Berlin oder die schon genannten gelben Judensterne mit „Ungeimpft“ darauf. In jedem Fall ist hier nicht nur der lange Arm der Justiz gefordert, der zurecht in vielen Fällen handeln muss; es geht auch um das Erkennen einer Grenze des Verständnisses für die, welche die freie Meinungsäußerung für Falsch- und Hassbotschaften missbrauchen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, mit kritischem Blick Vorfälle an Institutionen wie etwa die Antisemitismus-Meldestelle der IKG zu übermitteln. Im Internet finden sich Ratgeber und Hilfestellungen gegen Verschwörungstheoretiker in Fülle. Helfen werden sie vor allem denen, die sich selbst gegen die Schwurblerei wappnen wollen. In der Praxis werden sie – man möge mich vom Gegenteil überzeugen! – nur langsam und nicht umfassend hilfreich sein. 

Weiterführender Lesetipp:

Alyssa Wyner sammelte bereits im Mai 2020 weltweite Stimmen (von den USA, Brasilien über Europa bis zum Mittleren Osten), die Jüdinnen und Juden auf negative Weise mit dem Coronavirus verbanden. 

Autor: 

Foto von Gerald Langer

Gerhard Langer ist Professor für Judaistik am gleichnamigen Institut in Wien. Er forscht vor allem zu jüdischer Antike, jüdischer Kultur und Literatur sowie zum Dialog der Religionen.